Barbara Haider-Wilson / William D. Godsey / Wolfgang Müller (Hgg.): Internationale Geschichte in Theorie und Praxis / International History in Theory and Practice (= Internationale Geschichte / International History; Bd. 4), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2017, 811 S., ISBN 978-3-7001-8000-5, EUR 79,00
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"Internationale Geschichte" ist im Grunde ein diffuser Begriff. Anstelle klarer Definitionen kursieren Beschreibungen von Themenfeldern, nützlichen Methoden und instruktiven Theorieangeboten. Derlei Verortungen markieren keine klaren Ränder und verzichten darauf, fixe Abgrenzungen zu anderen Subdisziplinen oder Perspektiven der Geschichtswissenschaft vorzunehmen. Die Bezeichnung Internationale Geschichte hat sich - inklusive der Großschreibung - in der Forschung des deutschen Sprachraums zwar etabliert, aber verschiedene Alternativprägungen, die ähnliche, verwandte oder identische Felder meinen, keineswegs verdrängt. Der Blick über nationale Grenzen hilft bei Definitionsversuchen nur bedingt. Vielmehr werden dort aus eigenen Traditionslinien heraus in Inhalten und Zugängen mitunter andere Akzentuierungen etwa für eine "International History" vorgenommen oder es kommen eigenständige begriffliche Entwicklungen zum Tragen. Auf diese Weise wird die Zahl von Zuschreibungen und Benennungen nur noch erhöht. Die vermeintliche Verschwommenheit der Internationalen Geschichte kann positiv als begrüßenswerte Entscheidung gegen den Versuch gelesen werden, ein weiteres oder neues Paradigma absolut zu setzen. Dass Auseinandersetzungen um den angeblich allein gültigen Zugang zur Geschichte in einen selbstreferentiellen "Dialog der Taubstummen" münden können und damit konstruktive Diskussionen und eine qualitative Fortentwicklung der Untersuchungen nur torpedieren, hat die westdeutsche Fachpolemik insbesondere der 1970er- und 1980er-Jahre gezeigt. [1]
In der Tat werben die Herausgeber des voluminösen Bandes nicht für eine neue, exklusive Lehrmeinung, sondern für ein Programm von Pluralismus, Erweiterung, Multiperspektivität, Offenheit und Integration in der Forschung zu internationalen, transnationalen und globalen Phänomenen und Prozessen, von Beziehungen, Kontakten, Verbindungen und Wechselbeziehungen zwischen Staaten, Gesellschaften und Individuen, Kulturen und Netzwerken. Diese Vielfalt impliziert, dass politische Aspekte im Zugriff eben nicht verloren gehen. Dieses Grundverständnis teilen die Verantwortlichen des vorliegenden Bandes mit anderen Projekten, in Deutschland beispielsweise mit den Herausgebern der Reihe "Studien zur internationalen Geschichte". [2] Doch während in der Reihe der Fokus einstweilen noch nahezu ausschließlich auf der Internationalen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert liegt, diskutiert und erprobt der, wenn man so will, österreichische Band an mehreren Stellen die Einbeziehung früherer Epochen. Die interessante Frage, ob Internationale Geschichte heute bereits international betrieben wird, scheint in dem Band auf. Sie verdiente aber offensichtlich eine eigene, ausführliche Debatte.
Mit dem Blick aufs Ganze plädiert Barbara Haider-Wilson in ihrer informativen Einleitung für die "Vernetzung unterschiedlichster Ansätze - intrafachlich, aber wo möglich auch interdisziplinär" (60). Mit diesem ambitionierten Ziel vor Augen bringt der Band im ersten Großkapitel Vertreter verschiedener "Epochen" von der Alten bis zur Zeitgeschichte (63-205) zusammen, danach unter den Rubriken "Methoden - Zugänge" bzw. "Historiographische Räume" Autoren unterschiedlicher Denkschulen und Traditionen von der Diplomatic History bis zur Transnationalen Geschichte, das alles von Russland über China bis nach Lateinamerika (207-311, 313-473); schließlich werden Fallstudien zu "Themenfeldern und Konzepten" (475-719) angeboten. Der Generalansatz der Publikation sowie die wuchernde Forschungslandschaft in der Internationalen Geschichte selbst machen es unmöglich, alle Richtungen, Regionen und Perspektiven zu ihrem Recht kommen zu lassen. Der Band enthält Einzelbeiträge, die unterschiedlich, teils als Überblicksdarstellung, teils als Problemaufriss oder als Detailstudie konzipiert sind. Hier wäre wohl gerade für die Beschreibung und Demonstration unterschiedlicher regionaler und methodischer Entwicklungen ein einheitlicheres Format der Artikel denkbar gewesen. Insgesamt können die versammelten Beiträge die Chancen und Potentiale einer Internationalen Geschichte illustrieren, jedoch auch verschiedentliche Problemlagen und Fußangeln. Letztere ergeben sich nicht zuletzt in den Epochen, die sich mit möglichen Vorannahmen über Nationen oder Nationalstaaten in einer Inter-Nationalen Geschichte schwerer tun als Arbeiten zum 19. und 20. Jahrhundert.
Angesichts der Fülle nicht nur der Beiträge, sondern auch der im Band versammelten Fachkompetenz zu verschiedenen Epochen, Themen und Regionen kann eine knappe Rezension die einzelnen Ausführungen nicht angemessen würdigen. Die Informationsdichte der Einleitung wurde bereits erwähnt. Souveräne Überblicke, wichtige Argumentationspunkte, kluge Fragestellungen, Denkanstöße oder einfach interessante Einsichten und Informationen lassen sich an vielen Stellen finden. Der jeweilige Neuigkeitswert wird bei jedem Leser je nach eigenem Schwerpunkt variieren. Für einen Rezensenten aus der Neuen Geschichte bieten etwa die Beiträge von Josef Wiesehöfer und Martin Kintzinger anregende Überlegungen aus gänzlich anderen Zeiten. Dominic Engel und Axel Körner liefern für Jedermann verlässliche Darstellungen zur Erneuerung der Diplomatiegeschichte und zur Transnationalen Geschichte; aufschlussreiche Einblicke in historiografische Entwicklungen und Debatten geben unter anderem Lawrence Badel und Bert G. Fragner. Schließlich bieten - ohne dass diese Einschätzung Anspruch auf Vollständigkeit erhebt - Frans Willem Lantink, Arno Strohmeyer, Jonathan Spangler und Peter Becker spannende Detail- bzw. Gesamtansichten. Auf diese Weise enthält der Band Anschauungsmaterial für die Möglichkeiten und für die Relevanz einer offen angelegten Internationalen Geschichte.
Anmerkungen:
[1] Vgl. an frühen Bestandsaufnahmen und Erweiterungsvorschlägen u.a. Friedrich Kießling: Der "Dialog der Taubstummen" ist vorbei. Neue Ansätze in der Geschichte der internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), 651-680; Ursula Lehmkuhl: Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte. Theoretische Ansätze und empirische Forschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Soziologischem Institutionalismus, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 394-423.
[2] Seit 1996 publiziert im Oldenbourg-Verlag, jetzt De Gruyter Oldenbourg. Programmatisch die Bände 10 (2000) und 30 (2012). Vgl. daneben Hillard von Thiessen / Christian Windler (Hgg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, Köln / Weimar / Wien 2010.
Andreas Hilger