Catherine Hickley: Gurlitts Schatz. Hitlers Kunsthändler und sein geheimes Erbe, Wien: Czernin-Verlag 2016, 334 S., 35 s/w-Abb., ISBN 978-3-7076-0574-7, EUR 24,90
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Die Entdeckung von nahezu 1.300 Kunstwerken in der Münchner Wohnung von Cornelius Gurlitt erregte Anfang 2013 großes mediales Aufsehen. Als die Presse den Fall publik machte, hatte die Augsburger Staatsanwaltschaft [1] bereits die Beschlagnahme von insgesamt 1.258 dieser - zum Teil hochkarätigen - Werke in die Wege geleitet. Sie waren einst von Gurlitts Vater Hildebrand, einem der namhaften deutschen Kunsthändler in der Zeit des Nationalsozialismus, zusammengetragen worden.
Der vorliegende Band ist die deutsche Übersetzung des 2015 auf Englisch erschienenen Buchs "The Munich Art Hoard". Die Journalistin Catherine Hickley arbeitet darin das von enormem Interesse für Moderne Kunst geprägte Leben Hildebrand Gurlitts und die Entstehungsgeschichte seiner Kunstsammlung auf. Des Weiteren werden die Zusammenhänge rund um den Kunstfund von 2012 beleuchtet.
Im ersten Kapitel geht Hickley dem Besitzerwechsel eines Liebermann-Gemäldes aus der Gurlitt-Sammlung nach und bringt damit ein spannendes Einzelbeispiel: Das Gemälde hatte der jüdischen Familie Toren aus Breslau gehört und war über mehrere Stationen in den Besitz von Hildebrand Gurlitt gelangt. Hickley nähert sich dem Fall, indem sie zunächst die Kindheit und Jugendzeit des 1925 geborenen David Toren schildert. Sie führt dem Leser auf diese Weise kulturhistorische und gesellschaftspolitische Aspekte der jüdischen Gemeinde, vom aufkommenden Antisemitismus (19) über die erzwungene Veräußerung von Besitztümern bis hin zur Emigration Torens nach Schweden (25), vor Augen. Dies soll den Kontext bieten für die mitunter verschlungenen Wege, auf denen jüdisches Eigentum in fremde Hände gelangte.
Die nachfolgenden fünf Kapitel beschäftigen sich ausführlich mit der Familiengeschichte der Gurlitts und im Speziellen mit der Biografie Hildebrand Gurlitts bis in die 1950er Jahre. Hickley schlägt immer wieder Bögen zwischen anderen Sammlern und Gurlitt, was einen guten Eindruck des weit verzweigten Beziehungsnetzwerks vermittelt. Es folgt eine detaillierte, mitunter weitschweifige Biografie von Cornelius Gurlitt. Hickley arbeitet heraus, dass es sich bei ihm um eine "tragische Figur" gehandelt habe (223), und hebt hervor, dass er sich als Privatperson dazu bereit erklärte, Kunstwerke nach den Grundsätzen der Washingtoner Erklärung [2] an berechtigte Anspruchsteller zu restituieren (237). In den nachfolgenden Kapiteln widmet sich Hickley ausführlich den Umständen, die zur Entdeckung der Kunstsammlung führten, den sich anschließenden weltweiten Reaktionen und abschließend der testamentarischen Einsetzung des Kunstmuseums Bern als Erben der Kunstsammlung durch Cornelius Gurlitt.
Hickleys Arbeit ist gewissenhaft recherchiert und faktenreich. Die Journalistin hat ein breites Publikum im Blick, das sich durch die Lektüre vor allem unterhalten wissen möchte. So werden unter anderem in der Biografie Hildebrand Gurlitts intime Details über dessen Krankheitsgeschichte offengelegt (47). Ein Familienangehöriger äußert sich zum Autounfall Hildebrands und ist sich sicher, "sein Onkel hätte überlebt" (168), sofern Hildebrands Ehefrau rechtzeitig in eine Amputation eingewilligt hätte. Gegenüber Ärzten habe sie gesagt, "sie wolle keinen einbeinigen Mann" (168). Ebenfalls wird ein ehemaliger Klassenkamerad von Cornelius Gurlitt zitiert (174ff.), wobei zu fragen ist, inwieweit die daraus bezogenen Informationen tatsächlich zur Untersuchung beitragen oder vornehmlich einen unterhaltenden Zweck haben, wenn es, wie angedeutet, um Belege für die "Schrulligkeit" Cornelius Gurlitts geht.
Hickley fragt insbesondere nach der Motivation und der Gesinnung Hildebrand Gurlitts bei seiner Tätigkeit im Auftrag der Nationalsozialisten. Sie kommt zu der nachvollziehbaren und naheliegenden Einschätzung, dass "Angst und Ehrgeiz" eine ursächliche Rolle für ihn gespielt hätten, "seinen Glauben zu verraten und seine Moral aufzugeben" (169). Dass Gurlitt die Ideologie der Nationalsozialisten nicht geteilt habe, macht die Autorin daran fest, dass er sich 1933 weigerte, die Hakenkreuzfahne vor dem von ihm geleiteten Hamburger Kunstverein aufzuziehen und sogar dafür sorgte, dass der Fahnenmast abgesägt wurde (58). Darüber hinaus war er nie Parteimitglied - profitierte als Kunsthändler aber massiv von der Enteignung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung.
Einige von Hickleys Schlussfolgerungen wirken allerdings eher spekulativ, so zum Beispiel: "Vielleicht wäre [Hildebrand] Gurlitt später nicht so viele ideologische Kompromisse eingegangen, wenn er sich damals politisch mehr engagiert hätte." (41) Cornelius Gurlitts Entscheidung, in seinem Testament das Kunstmuseum Bern als Erben der Kunstwerke einzusetzen, um damit vielleicht "sein Heimatland [zu] brüskieren" (271), lässt ebenfalls Mutmaßungen über mögliche Beweggründe zu.
Als kunsthistorisch angelegte Arbeit muss sich der Band Kritik an ein paar kleineren sprachlichen, aber auch inhaltlichen Unzulänglichkeiten gefallen lassen. So befindet sich das Sprengel-Museum nicht in Hamburg (82), sondern in Hannover, und bei der Formulierung zur "Landschaft von Andreas Aschenbach [sic!] aus dem Jahr 1847" (195) dürfte der Maler Andreas Achenbach gemeint sein. Hier hätte man sich ein sorgfältigeres Lektorat gewünscht.
Seitdem die Öffentlichkeit 2013 durch Medienberichte Kenntnis über den Kunstfund erlangte, ist der "Fall Gurlitt" in zahlreichen Veröffentlichungen präsent und löste eine Debatte aus, in deren Fokus neben dem Umgang mit Vermögensverlusten durch NS-Verfolgung und sogenannter Entarteter Kunst auch rechtliche Fragen standen. Betrachtet man diese Debatte, so sind die Sensibilisierung für das Thema Provenienzforschung und der Ausbau des Forschungsschwerpunkts "Provenienz" als durchweg positiv anzuerkennen. Neben dem wichtigen von Johannes Heil und Anette Weber herausgegebenen Tagungsband [3] und der Publikation von Meike Hoffmann und Nicola Kuhn zum Thema liegt nun mit Catherine Hickleys Studie eine Veröffentlichung vor, die der Arbeit der Taskforce "Schwabinger Kunstfund" [4] nicht nahesteht und eine Aufarbeitung aus einer anderen Perspektive bietet. Es wird einmal mehr verdeutlicht, "dass die Aufgabe, sich mit den NS-Verbrechen auseinanderzusetzen, für Deutschland nie zu Ende sein wird" (286).
Anmerkungen:
[1] Bei einer Zugfahrt von Zürich nach München wurden Zollfahnder im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Augsburg auf Cornelius Gurlitt aufmerksam. Es konnte ein Anfangsverdacht wegen Steuerhinterziehung begründet werden, der die Durchsuchung der Wohnung in München nach sich zog. Vgl. Meike Hoffmann / Nicola Kuhn: Hitlers Kunsthändler. Hildebrand Gurlitt 1895-1956. Die Biographie, München 2016, 312-316.
[2] Bei der Washingtoner Konferenz wurden 1998 elf Grundsätze formuliert, zu denen sich Vertreter von 44 Staaten und nichtstaatlicher Organisationen bekannt haben. Sie verpflichteten sich dazu, den Provenienzen von ungeklärten Sammlungsbeständen nachzugehen und so evtl. NS-Raubkunst aufzuspüren. Die Verpflichtung zur Provenienzforschung und zur etwaigen Restitution von Kunstwerken an ihre rechtmäßigen Eigentümer ist allerdings als moralische Selbstverpflichtung zu verstehen und nicht rechtsverbindlich. Privatsammler unterliegen dieser Selbstverpflichtung im Gegensatz zu öffentlichen Sammlungen nicht. Vgl. Gunnar Schnabel / Monika Tatzkow: Nazi Looted Art - Handbuch Kunstrestitution weltweit, Berlin 2007, 192-199.
[3] Johannes Heil / Annette Weber (Hgg.): Ersessene Kunst - Der Fall Gurlitt, Berlin 2015.
[4] Die Taskforce "Schwabinger Kunstfund" setzte sich aus einer Expertengruppe zusammen, die die Herkunft der Kunstwerke aus dem Besitz von Cornelius Gurlitt daraufhin untersuchte, ob diese in der Zeit des Nationalsozialismus ihren rechtmäßigen Eigentümern verfolgungsbedingt entzogen worden waren. Nach der Auflösung der Taskforce führt das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste das Projekt unter dem Namen "Provenienzrecherche Gurlitt" fort.
Florian Kühne