Jan Schleusener: Raub von Kulturgut. Der Zugriff des NS-Staats auf jüdischen Kunstbesitz in München und seine Nachgeschichte (= Bayerische Studien zur Museumsgeschichte; Bd. 3), Berlin: Deutscher Kunstverlag 2016, 223 S., 76 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-07366-1, EUR 49,90
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Gegenstand der im Folgenden zu besprechenden Publikation ist ein doppeltes Skandalon: zum einen der infame, staatlich dirigierte Diebstahl von Kunstwerken aus jüdischem Eigentum im Winter 1938/39 in München. Und zweitens die über Jahrzehnte andauernde, offenbar mutwillige Verdrängung dieses Ereignisses durch städtische Gedächtnisinstitutionen und kulturpolitische Entscheider. Erst durch einen späten Aktenfund bei Umbaumaßnahmen des Münchner Stadtmuseums im Jahr 2007 wurde die Erinnerung an die "Arisierung" von Kunst in der ehemaligen "Hauptstadt der Bewegung" wiederbelebt und endlich auch Gegenstand einer soliden wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Von dem Münchner Kunstraub waren annähernd 70 Haushalte bzw. Sammlungen jüdischer Eigentümer betroffen. Die Gestapo-Beamten und ihre Hilfswilligen machten dabei reiche Beute: etwa 2.500 Objekte, vor allem Bilder und Grafik, fielen ihnen in die Hände. Über vergleichbare Aktionen in anderen deutschen Städten ist bislang nichts bekannt geworden.
Ermöglicht wurde der generalstabsmäßig vorbereitete Diebstahl durch eine perfide Allianz von Kunstsachverständigen aus den Museen mit den Vollzugsbeamten der Stapoleitstelle München. Ohne die tätige Mitwirkung und die fachliche Expertise der Kuratoren und Museumsdirektoren wäre die gleichermaßen reibungslose wie schnelle Raubaktion nicht derart effizient durchführbar gewesen. Es waren museale Experten wie Ernst Buchner (Bayerische Staatsgemäldesammlungen) oder Hans Buchheit (Bayerisches Nationalmuseum), die genau Bescheid wussten über Örtlichkeit, Qualität und Umfang der privaten Sammlungen und die die Gestapo-Beamten in denunziatorischer Absicht zu den einschlägigen Adressen führten. Neben dem Staatsfiskus und den Museen gehörten freilich auch renommierte Münchner Kunsthändler und Auktionshäuser zu den Profiteuren der Beschlagnahme-Aktion. Jan Schleusener charakterisiert dieses Täter-Kollektiv treffend als "erweiterte Gestapo".
Schleusener, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik der Universität Erfurt, gelingt in seiner kenntnisreich geschriebenen Publikation eine detaillierte Rekonstruktion dieses singulären Kunstraubs. Er gibt Akteuren und Profiteuren Namen, beschreibt ihre Motive und Ziele, benennt die betroffenen Opfer und gibt schließlich - exemplarisch - einen Eindruck von gestohlenen Objekten und ihren oftmals verschlungenen Wegen in Museen, in Depots und in den Kunsthandel. Und da Schleusener die Münchner Ereignisse geschickt kontextualisiert und stets in den größeren Rahmen der nationalsozialistischen Judenverfolgung und der Kunstpolitik des Regimes einspannt, wird einmal mehr deutlich, wie sehr München als "Hauptstadt der Bewegung" darum bemüht war, in allen ideologisch-politischen Kernbereichen des NS-Systems eine beispielgebende Vorreiterrolle einzunehmen. Breiten Raum nimmt schließlich die vielfach beschämende Nachgeschichte von Restitution und "Wiedergutmachung" ein.
Kernstück von Schleuseners analytisch angelegter Rekonstruktion des Münchner Kunstraubs sind biografische Skizzen der Akteure, sowohl auf Seiten der Täter wie auch der betroffenen Kunsteigentümer. Als Drahtzieher und "Erfinder" der Aktion gilt zwar der Referent für Kunsthandelsfragen beim Landeskulturwalter München-Oberbayern, Max Heiß, der den Anstoß zur "Sicherstellung" von Kunst in jüdischem Eigentum gab. Realisiert wurde der Kunstraub jedoch als interdisziplinäre Gemeinschaftsaktion ganz unterschiedlicher Institutionen und Interessengruppen, wobei die Spannbreite von der Gauleitung und der Polizeiexekutive über Museen und Kunsthandel bis hin zur Oberfinanzdirektion München reichte. Dieser informelle und weitgehend spontan zusammengefügte "Interessenverbund Kunstraub" operierte hochgradig effektiv. Die wichtigsten Akteure - darunter der Gestapobeamte Josef Gerum und der Münchner Gauleiter Adolf Wagner - werden in konzisen biografischen Skizzen vorgestellt.
Im Gegensatz zur hohen kriminellen Energie, mit der der Kunstraub 1938/39 realisiert wurde, blieben die Selbstreinigungskräfte in den musealen Institutionen nach 1945 bescheiden. Auch diese institutionelle Amnesie arbeitet Schleusener prägnant heraus. Zwar konnten die prominenten Akteure, die vor allem von den Spruchkammern mit ihrer Schuld konfrontiert wurden, ihre Verstrickung nicht leugnen. Sie waren jedoch überaus geschickt darin, die Motive ihres Handelns umzudeuten und die antijüdische Raubaktion in einen treuhänderischen Zugriff zugunsten der Eigentümer umzuschreiben. So sei es ihnen vor allem darum gegangen, eine drohende "Abwanderung" der Kunstwerke zu verhindern und diese bis zu einer möglichen Rückgabe an die ursprünglichen Eigentümer sicher aufzubewahren. Diese Entlastungsstrategie wurde unisono von nahezu allen beteiligten Akteuren praktiziert.
Besonders hervorzuheben ist neben der souveränen sprachlichen Bewältigung des Themas die solide und breit angelegte Quellenarbeit und die umsichtige Einbettung des Kunstraubs in den zeitgeschichtlichen Kontext. Eine Lücke der Münchner Stadtgeschichte ist endlich geschlossen. Unschön sind freilich einige vermeidbare Fehler: Die Opfer der ersten Deportation aus München im November 1941 wurden nicht im Getto von Kaunas, sondern im Fort IX nördlich der Stadt ermordet (149). Auch beurkundete das Münchner Amtsgericht während der NS-Zeit keine Tod-Erklärungen von deportierten jüdischen Münchnerinnen und Münchnern (150). Dies erfolgte erst nach 1945 im Zuge der Aufklärung des Schicksals der Ermordeten. Über die genaue Zahl der Deportationen aus München sind wir seit 2013 dank der Grundlagenforschung von Maximilian Strnad genauestens informiert. Leider wurde diese Literatur nicht konsultiert, was zu missverständlichen Angaben über die Deportationen aus der "Hauptstadt der Bewegung" führt (158). Kritisch anzumerken ist zudem, dass ein Großteil der zahlreichen Illustrationen nicht datiert ist und dem Leser die mühsame chronologische Einordnung von historischem Bildmaterial überlassen bleibt. Bedauerlich ist schließlich eine gelegentliche sprachliche Unschärfe bei der Verwendung der Kategorien "Eigentum" und "Besitz", die gewissermaßen synonym Verwendung finden, obwohl sie streng voneinander abzugrenzende Tatbestände beschreiben: Eigentümer ist, wem eine Sache rechtlich gehört, Besitzer, wer sie tatsächlich innehat.
Trotzdem ist das Buch von Jan Schleusener eine anregende und systematisch angelegte Fallstudie mit hohem Erkenntniswert über Täternetzwerke im Kontext des nationalsozialistischen Kunstraubs. Zwar werden die gestohlenen Sammlungen nur kursorisch dokumentiert und bleiben daher in ihrer künstlerischen bzw. kunstgeschichtlich möglicherweise relevanten Tektonik im Dunklen. Über die einzelnen Kunstwerke, ihren Wert und ihre Bedeutung und wie sich in ihnen womöglich Sammlungsinteressen, Persönlichkeit und "kulturelle Identität" (200) des Eigentümers spiegeln, erfährt man leider zu wenig. Daher wäre es wünschenswert und zweifellos im Sinne der Provenienzforschung, wenn sich an die eindrucksvolle Rekonstruktion des "Kunstraubs" - in einem zweiten Schritt - eine ins Detail und in die Tiefe gehende Evaluation und kunsthistorisch fundierte Einzelbetrachtung der geraubten Kulturgüter anschließt.
Andreas Heusler