Hans-Werner Schmidt / Frédéric Bußmann (Hgg.): Sighard Gille: ruhelos. Werkverzeichnis der Malerei, Leipzig: E. A. Seemann Verlag 2016, 448 S., 1166 Abb., ISBN 978-3-86502-377-3, EUR 49,95
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Unter dem Titel "ruhelos" ist das von der Peter und Irene Ludwig Stiftung finanzierte, mehr als drei Kilo schwere Werkverzeichnis sämtlicher Gemälde von Sighard Gille 2016 in einem Tabletop Format im Leipziger E.A. Seemann Verlag erschienen. Der Titel und das statische Erscheinungsbild des 442 Seiten umfassenden, kolossalen Bildbandes bilden einen reizvollen Kontrast.
Die Frau des Malers, Ina Gille, konnte die erstaunliche Zahl von 1.166 Werken, die zwischen 1962 und 2015 entstanden sind, zusammen tragen. Der Band, herausgegeben von Hans-Werner Schmidt und Frédéric Bußmann, dient zugleich als Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Museum der bildenden Künste Leipzig, die dort vom 30.10.2016 bis zum 22.1.2017 zu sehen war. Eine entscheidende Voraussetzung für die Wirkung und den Erfolg dieses Verzeichnisses von Gemälden eines so kühnen Koloristen ist die durchgehend gute Farbqualität der Reproduktionen, für die sich der Verlag verdient gemacht hat.
Als Titelbild wählten die Herausgeber des Bandes mit Bedacht das Selbstporträt "Prof. auf Bergblau", das Gille 1993, ein Jahr nach seiner Berufung zum Professor für Malerei an die Hochschule für Grafik und Buchkunst, gemalt hat. Der Terminus 'Bergblau' ist eine Anspielung auf das "scheußliche Blau" aus westlicher Produktion, das er jetzt nach der Wende statt dem vertrauten Kobalt- oder Ultramarinblau verwenden muss. In seinem neuen Amt zeigt Gille sich keineswegs schmeichelhaft, um Anerkennung werbend, sondern eher als ein ungehobelter Grobian in der Tradition der alten Fauves und der neuen Wilden.
Uwe M. Schneede, der sich als Direktor des Hamburger Kunstvereins schon Anfang der 1970er-Jahre für die Kunst in der DDR, u.a. für Wolfgang Mattheuer, einer der Lehrer von Gille, eingesetzt hat, würdigt in seinem einleitenden Essay die besondere Stellung der Selbstbildnisse in Gilles Werk (14-35). Sie markieren wichtige Zäsuren seines Lebens und dienen ihm zur Selbstvergewisserung in Übergangs- und Krisenzeiten. Von Anfang an nimmt Gille keine Rücksicht auf seine Person oder auf Familienangehörige, Freunde und Bekannte auf den zahlreichen Gruppen- und Paarbildern. So zeigt er sich z.B. als Prolet ("G. Mit Bierflasche", 1970), gierig fressendes Krümelmonster ("Streuselkuchenessender Kopf", 1972) oder streckt dem Betrachter die Zunge heraus ("G. 45 (cad cam)", 1986). Geradezu monströs wirkt er auf einer Serie von Selbstbildnissen, die er zur Jahrtausendwende 15 Tage lang täglich im gleichen Format malte.
Mit dieser extrovertierten Lust auf Entblößung der Körper und Charaktere seiner Modelle geriet Gille sehr schnell in einen grundlegenden Dissens mit dem Tugendterror einer zutiefst protestantisch geprägten sozialistischen Gesellschaft. Exemplarisch ausgetragen wurde dieser Konflikt am Beispiel seines Gemäldes "Brigadefeier" (1975/77), mit dem Gille erstmals über Leipzig hinaus und auch in der Bundesrepublik Deutschland bekannt geworden ist. Im Besucherbuch der VIII. DDR-Kunstausstellung in Dresden (1977-78) stehen zahlreiche Einträge wütender Besucher, wie z.B.: "Man hat das Gefühl, die Herrschaften auf dem Bild müssen ins Trinkerheim oder sind reif für die Nervenanstalt. [...] Unsere Künstler sollen das Typische darstellen, nicht die unliebsamen Ausnahmen." Das Bild kam nur in diese repräsentative Ausstellung, weil der listige Bernhard Heisig vorgeschlagen hatte, die anstößige Feier um das schmale Hochformat der "Gerüstbauer", das bereits zugelassen war, zu einem Diptychon zu ergänzen. Doch auch die Kombination von feiernden und arbeitenden Werktätigen stieß auf heftige Ablehnung, obwohl Gille als Modelle für das Bild wieder mit den ihm inzwischen vertrauten Mitgliedern der "Brigade Heinrich Rau" aus dem Baustoffmaschinenwerk Eilenburg arbeitete, die er unmittelbar nach Abschluss seines Studiums 1971 als erstes Auftragswerk porträtiert hatte.
Gilles drastische Schilderung sowohl einer alkoholisierten Brigadefeier als auch schwitzender Gerüstbauer mit Bierbauch verstießen gegen das Identifikationsgebot mit einem positiven Vorbild, das die Maler überzeugend ins Bild setzen sollten. Die Darstellung körperlicher Arbeit und ihre entstellende Auswirkungen auf den Körper gehört zu den größten Tabus des Sozialistischen Realismus. Wenn solche "Problembilder" die Zivilisationsschäden der Industriegesellschaft thematisierten, stellten sie implizit den Anspruch des "realen Sozialismus" in Frage, die antagonistischen Widersprüche des Kapitalismus überwunden zu haben.
Gille ließ sich aber von den Funktionären nicht beirren. Als ihm bei seiner ersten Bild-Installation "Gesellschaft mit Wächter" (1982) die vollplastische Gipsfigur des Wächters nicht genehmigt wurde, zog er Bild und Plastik von der IX. Kunstausstellung der DDR zurück.
Ausgehend von einem an Dix und Grosz geschulten drastischen und detailverliebten Verismus ("Rudolf Fickweiler", 1967), der sich distanzlos und ungeschönt ins pralle Leben begibt, z.B. in die überfüllte Moskauer Metro oder auf dem Fahrrad, eingeklemmt zwischen Zementmischer und Straßenbahn, in den Leipziger Straßenverkehr ("Selbstbildnis in der Moskauer Metro", 1969; "Familienbild", 1970), entwickelt Gille in den 1970er- und 1980er-Jahren unbekümmert ein kleinbürgerlich-proletarisches Pandämonium, das den Idealen eines sozialistischen Idealismus und den Geboten der sozialistischen Moral lustvoll und sinnlich widerspricht.
In einem erhellenden Essay spricht Bußmann die ästhetische Kategorie des Grotesken auf Gilles Malerei an und behauptet, dass dessen Darstellungen einer verzerrten Wirklichkeit zwischen Ernsthaftigkeit und Komik, Tragik und Satire oszillieren und auf den Regelbruch abzielen (38-54). Eine der Quellen für diese Haltung sieht er in Michail Bachtins Theorie einer subversiven Lachkultur, die dieser z.B. in seinem Buch über Rabelais entwickelte. Geschrieben 1940, als dem Homo Sovieticus (Alexander Sinowjew) das Lachen bereits ausgetrieben worden war, durfte es erst 1965 in Moskau publiziert werden. 1969 erschienen Texte von Bachtin unter dem Titel "Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur" im westdeutschen Hanser Verlag. Bachtins Texte waren Teil der Stalinismus-Kritik in den 1960er-Jahren. Eine ähnliche Wirkung als Gegengift zum normativen, auf gesellschaftliche Harmonie zielenden sozialistischen Humanismus sollen Gilles Gemälde auch in der DDR entfaltet haben. Dazu gehören die erwähnten Brigadebilder, die Gille selbst rückblickend als "satirischen Angriff" bezeichnete.
Bußmann zitiert die Leipziger Künstlerfeste, wie "Fete in Leipzig I" (1979) oder "Fasching I" (1987-88) und "Fete II" (1989), als Beispiele einer weit verbreiteten Karnevalskultur in der DDR, deren Schauplätze vor allem die legendären Faschingsfeste an den Kunstakademien in Dresden und Leipzig waren. Die dort gewährten bzw. herausgenommenen Freiheiten auf Zeit dienten allerdings wie im Mittelalter und der frühen Neuzeit mehr der Systemstabilisierung als der Emanzipation. So blieb am Ende als letzter Freiraum nur noch die Zurschaustellung des eigenen Körpers an den FKK-Stränden. Gille verwandelt mit seiner obsessiven Lust an der Aktmalerei das nackte Fleisch in Farborgien, die für den Betrachter zu Projektionsflächen seiner sexuellen Fantasien werden.
Am Ende dieses Buches und der bisherigen Malereiproduktion von Gille sitzen "Die Apokalyptischen" (2012-2013), die vier schrillen und exaltierten Protagonisten der legendären "School of London" R.B.Kitaj, Frank Auerbach, David Hockney und Lucian Freud, auf den Holzpferdchen eines Kinderkarussells als Hommage des ostdeutschen Malers an die Renaissance des Menschenbildes im Westen und der triumphalen Wiederkehr der Malerei auf der Ausstellung "A New Spirit in Painting" 1981 in der Royal Academy of Arts in London.
Eckhart J. Gillen