Michael Dreyer / Andreas Braune (Hgg.): Weimar als Herausforderung. Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert (= Weimarer Schriften zur Republik; Bd. 1), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, XVIII + 310 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-11591-9, EUR 44,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Verena Ebert: Koloniale Straßennamen. Benennungspraktiken im Kontext kolonialer Raumaneignung in der deutschen Metropole von 1884 bis 1945, Berlin: De Gruyter 2021
Kathrin Groh: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen: Mohr Siebeck 2010
Sebastian Winter: Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung Das schwarze Korps. Eine psychoanalytisch-sozialpsychologische Studie, Gießen: Psychosozial 2013
Die Weimarer Republik erfreut sich derzeit eines zunehmenden Interesses - sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit. Die Gründe hierfür sind einerseits erinnerungskonjunkturell, steht doch der 100. Jahrestag der turbulenten Republikgründung ins Haus, und andererseits eminent tagespolitisch: Immer wieder werden Vergleiche zwischen den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Deutschland und den Verhältnissen in der ersten deutschen Demokratie gezogen.
Die Erinnerung an "Weimar" haben sich der 2013 gegründete Verein "Weimarer Republik e. V." und die am Institut für Politikwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena angesiedelte "Forschungsstelle Weimarer Republik" auf die Fahnen geschrieben. Ihre Aktivitäten richten sich zum einen - etwa mittels Wanderausstellungen - an eine breitere Öffentlichkeit, zum anderen soll mit Tagungen und der Publikationsreihe "Weimarer Schriften zur Republik" ein Fachpublikum erreicht werden.
Der hier zu besprechende Band "Weimar als Herausforderung. Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert" stellt den Auftakt der genannten Schriftenreihe dar und geht auf eine im November 2013 in Berlin abgehaltene Tagung zurück. Die Herausgeber Michael Dreyer und Andreas Braune versammeln darin Beiträge von 19 Autorinnen und Autoren. Der Titel des Buches lässt ein breites Themenspektrum erwarten: der Umgang mit der Weimarer Republik in der gegenwärtigen Erinnerungskultur, die möglichen Ähnlichkeiten zwischen der ersten und der zweiten Republik (inklusive den eventuell daraus zu ziehenden "Lehren") sowie die aktuellen Probleme und Streitfälle in der "Weimar-Forschung" - um nur einige Aspekte zu nennen.
"Gerade die Beschäftigung mit der ersten deutschen Demokratie [kann] auch für die zweite Demokratie entscheidende Erkenntnisgewinne bieten" (IX) - in dieser im Vorwort geäußerten Überzeugung kommt die dezidiert politikwissenschaftliche und gegenwartsbezogene Intention des Bandes zum Ausdruck. Die "Herausforderung Weimar" erblicken die Herausgeber in der geringen öffentlichen Aufmerksamkeit für "die Bedeutung der Weimarer Republik als Erinnerungsort der Demokratie" (XI), in der starken Fokussierung der politischen Bildung auf die Krisen und die Endphase der Weimarer Republik, in den Problemen des musealen Umgangs mit "Weimar" sowie im angeblich geringen wissenschaftlichen Interesse für die erste deutsche Republik. Trotz dieser einleitenden Konkretisierungen bleiben Thema und Fragestellung des Bandes vage. Die nachfolgenden Beiträge bilden das mögliche Spektrum der "Herausforderungen" allenfalls in Ansätzen ab, mitunter lassen sie sich kaum unter das Überthema subsumieren.
Das erste Kapitel des Bandes steht unter dem Titel "Revolution und Republik, Deutschland und Europa". In einem lesenswerten Aufsatz behandelt Alexander Gallus darin die Forschungsgeschichte der Revolution 1918/1919. In der Bundesrepublik habe - mit der durchaus unterschiedlichen Deutung von Handlungsoptionen - bis in die 1980er Jahre hinein die Revolutionsphase im Fokus des historiografischen Interesses gestanden, bevor sich die Wissenschaft anderen Themen zugewandt habe. Seit ein paar Jahren lebe die Forschung hierzu wieder auf. Gründe seien die "Jubiläumsdynamik" (15), ein allgemein gesteigertes Interesse an revolutionären Auf- und Umbrüchen sowie an neuen geschichtswissenschaftlichen Feldern und "Fragehorizonten" (16).
Andreas Braune plädiert in seinem Beitrag dafür, die Gründung der Weimarer Republik aus dem Blickwinkel der vergleichenden Konstitutionalisierungsforschung zu betrachten. Neben den Umbrüchen in anderen europäischen Ländern während der Zwischenkriegszeit böten sich die Transformationen der Jahre 1989/1990 als geeignete Vergleichsobjekte an. Ob der "Ansatz der Akteurs- und Institutionenrationalität" (32) tatsächlich neue Erkenntnisse bringt, die etwa das "ominöse" Gespräch zwischen Ebert und Groener "in einem neuen Licht" erscheinen lassen (33), erscheint allerdings fraglich. Dass es für Revolutionäre essentiell ist, "Akteure des staatlichen Gewaltmonopols auf ihre Seite zu ziehen und jenes Monopol nicht zerfallen zu lassen" (33), kann mittlerweile als Common Sense der geschichtswissenschaftlichen Forschung gelten. Leider lassen sich die Potenziale der von Braune vorgeschlagenen Methode nur schwer eruieren, da sein Aufsatz zumeist auf der theoretischen Ebene verharrt und kaum Beispiele bietet.
Als Kernproblem der Weimarer Republik sieht Marcus Llanque an, dass diese es nicht vermochte habe, "ihre Bürger an sich zu binden" (39). Die fehlende Verbundenheit führt er beispielhaft anhand des Volksbegriffs und der verfassungsrechtlichen Grundpflichten aus. Die häufige Thematisierung der Auslandsdeutschen habe dazu geführt, dass "Volk" in Kategorien von "Zugehörigkeit", nicht von "Mitgliedschaft" gedacht worden sei. Letztgenanntes Modell hätte aber eine bewusste Bindung zwischen den Bürgern impliziert. In den in der Verfassung aufgenommenen Grundpflichten sieht Llanque schließlich den gescheiterten Versuch, "Verhaltenserwartungen zu thematisieren, die für das Gelingen der Demokratie als unerlässlich angesehen wurden" (52), - sprich: Verbindlichkeit zu erzeugen.
Einen Blick auf andere europäische Staaten sowie die USA wirft Tim B. Müller. Anfang der 1930er Jahre befanden sich nicht nur die deutsche, sondern auch Demokratien andernorts in einer Krise. Anhand der Beispiele Großbritannien und USA wirft Müller die Frage nach "Standardweg" (60) und Normalität in der Zwischenkriegszeit auf. Er plädiert dafür, in vergleichender Perspektive die "'Möglichkeitsstruktur' der Demokratiegeschichte zu erschließen" (62) und die "weit verbreitete These einer pathologischen Demokratisierung nach 1918 [...] eingehend zu überprüfen" (72).
Unter der Überschrift "Strukturen, Institutionen, politische Kultur" steht der zweite Abschnitt des Bandes. Darin beschäftigt sich Ursula Büttner mit den Krisen und Problemen der Weimarer Republik und konstatiert eine Überforderung des Staates und seiner Bürgerinnen und Bürger. Detlef Lehnert zeigt anhand einiger kontrafaktischer Überlegungen mögliche Alternativen etwa zum internationalen Umgang mit Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, zur Instabilität der Regierungen sowie zur Staatskrise ab 1930 und dem dann eingeschlagenen Weg in die Diktatur auf. Mit der Rezeption der Weimarer Reichsverfassung beschäftigt sich der Beitrag von Christoph Gusy. In vergleichender Perspektive betrachtet er die europäischen Demokratien der Zwischenkriegszeit und interpretiert die Konstitution von 1919 als ein "Verfassungslaboratorium" (127). Das durch inhaltliche Offenheit geprägte Grundgesetz von Weimar habe während seiner 14-jährigen Gültigkeit einen "geradezu stürmischen Verfassungswandel" (130) erlebt. Auf das Arbeitsvertragsrecht geht Franz Josef Düwell ein. Wichtige arbeitsrechtliche Regelungen seien erstmals in der Weimarer Reichsverfassung kodifiziert worden und auch die Errichtung einer eigenständigen Arbeitsgerichtsbarkeit sei das Verdienst der ersten deutschen Republik gewesen.
"Weimarer Biografien für das 21. Jahrhundert" - so lautet der Titel des dritten Kapitels. Bei den hier ausgewählten Persönlichkeiten handelt es sich um Friedrich Ebert (von Walter Mühlhausen), Matthias Erzberger (von Thorsten Oppelland) und Walther Rathenau (von Martin Sabrow) - mithin drei bekannte Staatsmänner. Bei aller Berechtigung, Ebert, Erzberger und Rathenau zu würdigen, wäre die Suche nach weniger prominenten republikanischen Persönlichkeiten (Männern wie Frauen), die als Vorbilder für das 21. Jahrhundert dienen könnten, sicher ein noch lohnenswerteres Unterfangen gewesen.
Ein viertes Kapitel widmet sich der "Weimarer Republik in musealer Repräsentation, Bürgerwissenschaft und politischer Bildung". Mehrere Aufsätze beschäftigen sich darin mit geplanten oder bereits realisierten Ausstellungen: Arnulf Scriba skizziert in seinem Beitrag knapp die Ideen der Kuratoren für eine Schau zu "100 Jahre Weimarer Republik" im Deutschen Historischen Museum. Die Ausstellung zur ersten deutschen Republik im Weimarer Stadtmuseum sowie die Probleme und Herausforderungen vor Ort - die "Mühen der Ebene" (212) - werden von Alf Rößner ausführlich dargestellt. Detailreich ist auch der Aufsatz "Es 'weimart' schon sehr" von Thomas Schleper, der "Hinweise auf ein Verbundprojekt im Westen anlässlich der Jubiläen von 'Bauhaus' und 'Weimarer Republik'", so der Untertitel, liefern möchte. Darin zeigt der Autor auf, welche Ausstellungen der Landschaftsverband Rheinland für 2019 plant und wie darin unterschiedliche kultur-, gesellschafts- und politikgeschichtliche Aspekte "Weimars" präsentiert werden sollen. Eine multimediale Wanderausstellung, die seit 2015 durch Einkaufszentren, Bahnhöfe und Flughäfen tourt und sich "niedrigschwellig" (262) an ein breites Publikum richtet, stellt Stephan Zänker vor. Ideen für ein "Haus der Weimarer Republik", das sich auf "Citizen Science" (269) stützt, skizziert Christian Faludi. Bürgerschaftliches Engagement solle etwa zur "Recherche und Digitalisierung von Dokumenten" (274) wie Lokalzeitungen genutzt werden. Aus den so erfassten Quellen könne dann ein Webarchiv entstehen, das die Geschichte der Republik "aus regionaler und lokaler Perspektive neu erzählt" (274), so Faludi. Konkreter erscheint das pädagogische Konzept der Europäischen Jugendbildungs- und Begegnungsstätte Weimar, das Moritz Kilger in seinem Beitrag vorstellt: In Mehrtagesseminaren für "junge Bürger" (277) soll die Geschichte der ersten deutschen Demokratie mit aktuellen Fragestellungen verknüpft werden. Hierbei schwingt die gegenwärtige Diskussion über drohende "Weimarer Verhältnisse" (288) deutlich mit. Insgesamt eröffnen die Aufsätze in diesem Kapitel zwar interessante Einblicke in die Projekte zur musealen und pädagogischen Vergegenwärtigung "Weimars", doch fehlt ihnen häufig eine kritische Distanz, da ihre Autoren an den von ihnen vorgestellten Konzepte zumeist selbst mitgewirkt haben.
Den Band schließt ein Aufsatz von Michael Dreyer über die Weimarer Republik im Fokus der deutschen Politikwissenschaft ab. Dreyer plädiert dafür, aus den Strukturen von "Weimar" zu lernen - "nicht nur ex negativo, sondern indem man sich von einzelnen Elementen der Weimarer Politik inspirieren lässt!" (300). Insbesondere sei der Blick auf den Umgang "Weimars" mit seinen Feinden "sehr aufschlussreich" (303) - so könne das Republikschutzgesetz von 1922 "auch heute einen Beitrag zum Schutze der (Berliner) Republik leisten" (306).
"Weimar als Herausforderung" vereinigt eine Fülle unterschiedlicher Aufsätze. Zwar findet sich nicht in allen Beiträgen ein Rückbezug auf die im Titel erwähnten "Herausforderungen", gleichwohl bietet der Sammelband interessante Beiträge, die - häufig aus politikwissenschaftlicher Perspektive - Aspekte der Vergegenwärtigung der ersten deutschen Demokratie aufzeigen. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht verdienen vor allem einige Aufsätze aus den ersten drei Kapiteln des Bandes Aufmerksamkeit, da sie schlaglichtartig Probleme der Weimarer Republik aufzeigen und die Entwicklung der Erinnerungspolitik thematisieren.
Jörn Retterath