Michael Walter: Oper. Geschichte einer Institution, Stuttgart: J.B. Metzler 2016, X + 470 S., ISBN 978-3-476-02563-0, EUR 49,95
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"Die Leute können vielleicht behaupten, dass ich nicht singen kann, aber niemand kann behaupten, dass ich nicht gesungen hätte", ließ Florence Foster Jenkins, die angeblich "schlechteste Sopranistin der Welt", 1944 auf ihren Grabstein schreiben. Dies scheint für den Opernbetrieb bis ins frühe 20. Jahrhundert nicht untypisch gewesen zu sein, wie "konkrete Beispiele für schlechte Sänger" zeigen (156f.). Das lag an der chronischen Unterfinanzierung außerhalb der Metropolen. Foster Jenkins' unzureichendes Gesangsvermögen musste in New York auffallen, in Springfield jedoch keineswegs. In der Provinz hatten viele Sängerinnen und Sänger keine Ausbildung. Manche Gesangslehrer in den Metropolen waren Scharlatane bzw. gescheiterte Opernsänger. Lange Zeit lieferten Kirchenchöre geeigneten Nachwuchs. Relativ gut waren die Aufführungen an den Hofopern, wo die Probezeiten in der Regel mehrere Monate umfassten, anders war es an den von Impresarios geleiteten italienischen Opern sowie französischen und deutschen Stadttheatern, wo nur wenige Wochen geprobt wurde (63).
Dies und vieles mehr erfährt man in dem originellen Werk von Michael Walter, einer Geschichte der Institution Oper. Es geht darum, wie die Oper in den vergangenen vierhundert Jahren und heute organisiert war und ist, welche Unterschiede es zwischen den Ländern, zwischen Metropolen und Provinz gab und gibt. Was waren die Bedingungen unter denen die Oper als ursprünglich italienische Kunstform ihren Siegeszug zunächst in Europa und dann in der Welt antrat? Wer waren die Mitwirkenden, wer die Besucher, wie hoch waren die Eintrittspreise in Verhältnis zum Einkommen unterschiedlicher Schichten? Wie waren und sind die Opern rechtlich geordnet?
Wer sich mehr für die Gattungsgeschichte oder die Musikgeschichte der Oper interessiert, sollte zu Carolyn Abbate und Roger Parkers "Eine Geschichte der Oper. Die letzten 400 Jahre" (München 2013) greifen. Hierüber erfährt man bei Walter eher weniger. Dafür wird man enervierend ausführlich über die komplexen vormodernen Währungsverhältnisse in den einzelnen Territorien und zwischen den europäischen Ländern informiert. Aufschlussreicher ist die Schilderung der Entwicklung der Reisemöglichkeiten von der Kutschen- und Segelschiffzeit, über Eisenbahn und Dampfschiffe bis hin zum Flugzeugzeitalter. Eine wichtige Voraussetzung für den "Triumph der Musik. Von Bach bis Bono", den Tim Blanning genialisch beschrieben hat (München 2010). Aber gerade die verbesserten Reisemöglichkeiten waren, neben steigenden Gagen, ein Grund für das Opernsterben in Italien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Komplette Ensembles machten sich nun auf den Weg nach Lateinamerika und in die USA, wo man sich den Anschluss an die europäische Hochkultur einiges kosten ließ, ähnlich wie bald auch in Südafrika, Indien und Australien. Das Risorgimento trug, da viele Hofopern geschlossen wurden, ebenso zur Krise bei wie das Urheberrecht: weil nun für neue Opern Tantiemen gezahlt werden mussten, wurden immer weniger neue Opern aufgeführt, der Opernbetrieb musealisierte sich.
Der Triumph der Oper war auch ein Sieg des katholischen Europa, den weder wütende Proteste der protestantischen Geistlichkeit in Dresden, Hamburg, Skandinavien, England, noch den USA verhindern konnte. Mit dem Siegeszug der Oper verschwand der konfessionelle Kritikpunkt.
Ab 1637 wurden in Venedig die ersten privaten Theater für zahlendes Publikum geöffnet. "Was das venezianische Theater zum Geschäftstheater machte, war nicht die Möglichkeit der öffentlichen Zugänglichkeit, sondern die Möglichkeit, die Theater nicht zu besuchen. Erst die Möglichkeit, auf den Opernbesuch zu verzichten (die an den Höfen nicht bestand), zwang die Betreiber des Theaters, ihn genügend attraktiv zu machen, um Opernbesucher anzulocken" (68). Dennoch mussten Opern immer subventioniert bzw. querfinanziert werden, durch die Höfe bzw. Städte und Staaten, das Sprechtheater, durch die Vermietung von Stellplätzen an Subunternehmer wie Eisverkäufer, Speisegastronomie, durch die Veranstaltung von Bällen. Im 18. Jahrhundert hatten die Impresari häufig gleichzeitig das Glückspielmonopol, das in den Theatern stattfand. Man bezahlte zunächst Eintritt für die Erlebniswelt Opernhaus und dann nochmal separat für den Zuhörerraum.
Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts unterhielten bedeutende Höfe die Oper gerade weil sie so extrem teuer war. Zuständig waren Hofchargen wie der "Directeur des plaisirs", die "Generalspektakeldirektion" oder der "Impresario delle divertimenti Teatrali di Sua Maesta Cesarea e Cattolica" (200f.).
Es sei leichter, "eine Armee von 50 000 Mann zu commandiren als eine Operngesellschaft in Ordnung zu halten", kommentierte der spätere König Georg I. von Großbritannien die Schwierigkeiten, die Disziplin in einem Opernensemble aufrechtzuerhalten (196). Speziell die höchstbezahlten Mitglieder, die Sängerinnen, verfügten über ein hohes Erpressungspotential. Es half kaum, dass sie durch Verträge geknechtet wurden, die Eheschließung und Schwangerschaft als Vertragsbruch ansahen und bei unzureichender Gesangsleistung mit Gefängnis drohten. Erst mit dem 1847 gegründeten "Cartelverein" der deutschen Bühnen gelang es, Kontraktbrüche deutlich zu senken, da man sich gegenseitig verpflichtete, keine "durchgegangenen" Sängerinnen und Sänger und Schauspielerinnen und Schauspieler mehr zu engagieren (239).
Zunächst betrachteten sich die Librettisten, häufig Rechtsanwälte oder Mitglieder des Patriziats, als die eigentlichen Autoren der Oper. Komponisten galten als Handwerker, Kapellmeister, die mitunter auch komponierten. Lange Zeit galt möglichst aufwändige Garderobe für den Erfolg einer Aufführung als mindestens so wichtig wie die Qualität der Musik. Weibliche Darsteller trugen üppige zeitgenössische Kleider. Erst ab den 1820er-Jahren setzten sich, sehr langsam, ausgehend von der Berliner Hofoper, historisierende Kostüme durch.
Im Film 'Pretty Woman' drückt Edward Lewis gegenüber seiner Begleiterin Vivian sein Unwohlsein angesichts der Höhe der Opernloge aus. Er hat Höhenangst. Als Vivian ihn fragt, warum er dann diese Plätze genommen habe, antwortet er: "Weil es die besten sind." Das ist ein Nachhall des vormodernen Zwecks des Opernbesuchs. Man ging nicht unbedingt wegen der Musik in die Oper, sondern weil man Teil des Hofes war. Vielleicht interessierte einen die Musik überhaupt nicht. Aber man wollte gesehen werden. Das gleiche galt auch noch im 19. und 20. Jahrhundert für das Besitz- und Bildungsbürgertum. Mit dem Opernbesuch dokumentierte man, dass man Mitglied der gehobenen Gesellschaft war. Nach der Julirevolution 1830 wurde die Oper zum Versailles der siegreichen Bourgeoise (192). Die Logen waren so angeordnet, dass man nicht unbedingt die Bühne gut überschauen konnte, sehr wohl aber die anderen Logen.
Erst spät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat der Bildungs- und Musikgenuss stärker hervor. Darauf verweist eine weitere Äußerung Edwards: "Leute, die zum ersten Mal in der Oper sind, reagieren oft sehr überraschend. Entweder mögen sie die Oper, oder sie hassen sie. Wenn sie die Oper lieben, dann ist es für immer. Die andern - tun mir leid. Denn die Musik wird nie ein Teil ihrer Seele werden."
Die Filmgeschichte der Oper hat Michael Walter nicht behandelt. Aber er gibt darüber hinaus viele überraschende und erhellende Einblicke hinter die Kulissen der Oper in Vergangenheit und Gegenwart. Sein Buch ist eine äußerst gewinnbringende und faszinierende Lektüre.
Wolfgang Burgdorf