Caroline Klausing / Verena von Wiczlinski (Hgg.): Die Napoleonischen Kriege in der europäischen Erinnerung (= Mainzer Historische Kulturwissenschaften; Bd. 30), Bielefeld: transcript 2017, 330 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-3351-1, EUR 39,99
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"Die Napoleonischen Kriege als europäischer Erinnerungsort?" (15) lautet die zentrale Fragestellung der Publikation zu einer 2014 an der Universität Mainz veranstalteten Tagung. Unter "europäischer Erinnerungsort" wird dabei die Summe verschiedener, nationaler Erinnerungsorte zum gleichen Thema verstanden, weshalb der Band "mehrere nationalstaatliche Deutungsmuster" nebeneinanderstellen möchte (34).
Europäische Bezüge innerhalb der nationalen Deutungsmuster werden dabei nicht explizit abgefragt. Dieser offene Ansatz führt dazu, dass in einigen Beiträgen praktisch keinerlei transnationale Aspekte zu finden sind. Ob diese in den untersuchten Erinnerungstraditionen tatsächlich keine Rolle spielten oder einfach nicht thematisiert werden, bleibt offen. Dies gilt vor allem für die Studien von Matthias Schnettger zur italienischen Erinnerungskultur, von Martin Rink zur Rezeption der preußischen Heeresreformer nach 1945, von Roland Gehrke zur Deutung der Napoleonischen Kriege in den "preußischen Ostprovinzen" und Norbert Parschalks Darstellung der Andreas-Hofer-Rezeption in Tirol. Für sich genommen bieten diese Aufsätze durchaus interessante Erkenntnisse.
Schnettger zeigt, dass Napoleon und dessen Herrschaft aus italienischer Sicht zu ambivalent erschienen, um ein "italienischer Erinnerungsort erster Ordnung" werden zu können (199). Rink legt als profunder Kenner seiner Materie auf geradezu amüsante Weise dar, wie Politik und Bundeswehr beim Versuch, sich mittels des Rückgriffs auf die preußischen Reformer von der Militärtradition vor 1945 abzugrenzen, genau diese fortführten. Laut Rink wurde 1960 als wissenschaftliche Grundlage des "Handbuchs innere Führung" ein Werk des Scharnhorst-Spezialisten Reinhard Höhn herangezogen, bei dem es sich um einen prototypischen "NS-Intellektuellen" gehandelt habe (128). Vor allem habe Höhn bereits in der Nazizeit in Anlehnung an die preußischen Reformer das Konzept des "politischen Soldaten" entwickelt (142), im Sinne des nationalsozialistischen Kriegers. Dieses Konzept sei nach 1945 wiederaufgelegt worden, nur sollte der "politische Soldat" nun ein Demokrat sein. Roland Gehrke zeigt, dass sich die preußischen Erinnerungsorte Kolberg, Tauroggen und Breslau einer offiziösen Erinnerungskultur entzogen, weil dort Ereignisse mit einer mehr oder weniger ausgeprägten antiobrigkeitlichen Note stattgefunden hatten.
Hans-Christian Maner spricht im Kontext der österreichischen Erinnerungsorte Malborghet und Predil (1809 erbittert verteidigte Festungen) immerhin explizit an, dass diese vor allem für die regionale, allenfalls nationale Erinnerungskultur relevant gewesen wären und nur sehr am Rande mit europäischen Bezügen versehen worden seien (116).
Besonders präsent ist die europäische Ebene bei Hans-Ulrich Thamer, Jan Kusber und Christof Schimsheimer. Thamer zeigt die europäische Rezeption der Schlacht von Waterloo und erklärt, wie sich diese in Großbritannien als Erinnerungsort behauptete, in Preußen hingegen als solcher verschüttet wurde. Kusber und Schimsheimer stellen die russische und polnische Erinnerungskultur vor. Die Deutung der Napoleonischen Kriege wurde dort zur Wasserstandsanzeige hinsichtlich des aktuellen Verhältnisses zu (West-)Europa. Die Erinnerung an das aus russischer Sicht entscheidende Jahr 1812 sei unter Alexander I. "universal-christlich", nicht "national-patriotisch" konnotiert gewesen (50). Nach dem Tod des Monarchen wurde dessen "europäisches Projekt" jedoch fallengelassen, so Kusber. Eine nationale Erinnerungskultur habe sich durchgesetzt, Höhepunkte dieses Ansatzes seien die Jubiläen 1912 und zuletzt 2012 gewesen (53). War bei Alexander I. "Europa" noch monarchisch-autokratisch, aber dennoch "positiv konnotiert", so stellt "Europa" laut Kusber im heutigen Russland ein eindeutiges Feindbild dar. Das "russische Gedenken an 1812" sei daher explizit nicht europäisch (60).
Im Falle Polens macht Schimsheimer zwei konkurrierende Legenden aus, welche die nationale Erinnerung an die Napoleonischen Kriege alternierend bestimmt hätten: Eine "weiße Legende", in der Napoleon als "Erwecker Polens" gelte und der Kampf der Polen für den Korsen als Kampf für Polens Unabhängigkeit erscheine; auf der anderen Seite stehe eine "schwarze Legende", die Napoleon als "Tyrann" kennzeichne, der die Polen in seinen Kriegen skrupellos als Kanonenfutter missbraucht habe (68). Die Prävalenz einer Lesart habe zum einen auf innerpolnischen Entwicklungen, zum anderen auf dem Verhältnis zu den europäischen Großmächten beruht. Vor dem Hintergrund der französisch-polnischen Annäherung in der Zwischenkriegszeit wurde die Waffenbrüderschaft der Napoleonzeit gepriesen (90), nach 1945 fühlte man sich einmal mehr vom "Westen" verraten und missbraucht, erklärt Schimsheimer. Diese Einschätzung und die sowjetische Vorherrschaft hätten wiederum ein negatives Bild Napoleons verstärkt (91). Nach 1989 habe die "offizielle Geschichtspolitik" die Erinnerung an die französisch-polnische Waffenbrüderschaft "zur Konsolidierung der Westbindung" gefördert (96).
Mehr Beiträge wie die letztgenannten wären wünschenswert gewesen, denn sie thematisieren explizit das schwierige Verhältnis zwischen dem transnationalen Ereignis und dem nationalen Gedächtnis. Sicherlich ist es legitim, einen "europäischen Erinnerungsort" aus der Summe der nationalen Einzelerinnerungen an das gleiche, übergreifende Ereignis zu konstruieren. Aber wenn die europäische Ebene in denselben scheinbar gar keine Rolle spielt, wirkt der Grundansatz doch zweifelhaft. Die Herausgeberinnen möchten die Einstufung der Napoleonischen Kriege als "europäischer Erinnerungsort" nicht grundsätzlich in Frage stellen. Sie beschreiben diesen aber in ihrer Bilanz als stark fluktuierend, in seinen verschiedenen nationalen Facetten sei er einmal mehr "regional", einmal mehr "national", einmal "lebendig", einmal "verschüttet", zum Teil nur noch "Folklore wie Reenactment" bzw. "austauschbare Mahnung zu Frieden und Völkerverständigung" (324).
Das hier angesprochene Verflachen der Erinnerung ist der auffälligste Trend, der sich aus den Einzelbeiträgen ableiten lässt. Thamer stellt fest, dass "die Bedeutung der Napoleonischen Kriege" für die französische Erinnerungskultur "stark abgenommen" habe (187). Nikolas Immer meint, die literarische Rezeption der Völkerschlacht von Leipzig habe sich mittlerweile dem "Bereich der 'Geschichtspornographie' angenähert" (268). Von einer ähnlichen Verflachung der Rezeption berichtet Andreas Linsenmann hinsichtlich der musikalischen Rezeption. Tschaikowskys berühmte Ouvertüre "1812" sei für "verschiedenste Kontexte", von der Werbung bis zur Popkultur, "anschlussfähig", weil in Vergessenheit geraten sei, was sie eigentlich beschreiben sollte (295). Auch der lange mythisch verehrte Tiroler Freiheitskämpfer Andreas Hofer wurde, folgt man Norbert Parschalks Lesart, mittlerweile zur "sympathischen Comic-Figur" degradiert, oder zumindest stark "vermenschlicht" (314).
Wenn die Napoleonischen Kriege ein "europäischer Erinnerungsort" sind, dann offenbar ein verblassender.
Sebastian Dörfler