Barbara S. Bowers / Linda Migl Keyser (eds.): The Sacred and the Secular in Medieval Healing. Sites, Objects, and Texts (= AVISTA Studies in the History of Medieval Technology, Science and Art), London / New York: Routledge 2016, XV + 306 S., ISBN 978-1-47244-962-7, GBP 95,00
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Linda Clark / Carole Rawcliffe (eds.): Society in an Age of Plague, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2013
Geneviève Dumas: Santé et société à Montpellier à la fin du Moyen Âge, Leiden / Boston: Brill 2015
Gisela Drossbach (Hg.): Hospitäler in Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankreich, Deutschland, Italien. Eine vergleichende Geschichte, München: Oldenbourg 2006
Das anregende, nicht nur für Medizin- und Wissenschaftshistoriker sehr empfehlenswerte Buch, das in zehn Beiträgen (mit einem Index, der nicht eine bloße Aufreihung von Namen, sondern eine klug durchdachte Auflistung von Themen und Schlagwörtern enthält) den Spannungsbogen zwischen religiösem und säkularem Ansatz mittelalterlicher Medizin und Krankheitskonzepte thematisiert, enthält überarbeitete Beiträge eines Symposiums der Western Michigan University (2011). Der Leser wird mehrfach in die mittelalterliche Alltagswelt eingeführt, etwa zu Zeiten der Pest (ein Forschungsgebiet, dessen Quellenlage von Italien über Deutschland bis England inzwischen exzellent ist), wobei die von Beda Venerabilis dargestellte Vita des Heiligen Cuthbert ein besonders interessantes Dokument zu einer frühmittelalterlichen Epidemie (664) darstellt, die durchaus noch im Kontext der rund 150 Jahre zuvor von mehreren Autoren ausführlich beschriebenen "Pest des Justinian" gesehen wurde. Ein kleiner Restzweifel, ob der Heilige wirklich an der "Pest" starb, darf geäußert werden, da "Schwellungen im Oberschenkelbereich" in Wirklichkeit ein sehr unklares Symptom darstellen. Aber darum ging es Beda, wie Michelle Ziegler in ihrem Beitrag zu Recht betont, nicht. Sein Ziel war es, das Leiden des Heiligen, der die Seuche im Gegensatz zu seinem Lehrer (und Vorgänger als Prior) Boisil überlebte, mit einschlägigen Zitaten des Neuen Testaments, der Apostelgeschichte sowie den Schriften der Kirchenväter in Einklang zu bringen. Krankheit ist, in alter Tradition, nicht nur negativ konnotiert, sondern kann ebenso göttliche Auszeichnung und Reinigung bedeuten. Boisil wird in den sieben Tagen seines Leidens bezeichnenderweise zum Propheten - die Krankheit erhöht seinen moralischen und sozialen Status.
Der Beitrag von Ottó Gecser bietet zunächst einmal eine (grobe) Übersicht mittelalterlicher Seuchentheorien. Der Einfluss der Sterne bzw. "Zeichen", welche eine "Pest" ankündigten, schien immens. Predigten und Gebete demonstrierten gleichzeitig den theologischen "Sinn" der Seuche bzw. von Krankheiten überhaupt (sowie nicht selten eine gewisse Konfliktsituation christlicher Ärzte und Autoren). Lange hielt sich, wie etwa am Beispiel des Franziskaners Bernardino de` Busti oder des Mainzer Kanonikers Gabriel Biel (beide 15. Jahrhundert) gezeigt wird, die Grundüberzeugung, dass letztlich Gott über die individuelle Gesundheit entscheidet. Er allein heilt, während Ärzte nur seine Werkzeuge darstellen. Kleriker und (vor allem akademisch gebildete) Mediziner betrachteten Möglichkeiten und Grenzen der Heilkunde naturgemäß unterschiedlich, wobei Medizin und Religion dennoch enge Berührungen aufwiesen (die Begriffe "Heil" und "Heilen" hängen in vielen Sprachen nicht zufällig etymologisch eng zusammen).
Eindrucksvoll erscheint in diesem Zusammenhang der Beitrag von James Bugslag über die heilende Wirkung von Heiligenschreinen und Reliquien, deren Nähe bzw. Berührung die Kranken suchten. Man wurde an Wallfahrtsorten vom Klerus zu lange dauernden Gebeten oder gar, in Fortsetzung heidnisch-antiker Traditionen, zur Inkubation, zum Heilschlaf, geradezu aufgefordert. In Chartres, um hier nur ein Beispiel zu erwähnen, füllten in der Nacht vor bestimmten Festen, etwa Mariä Geburt, Massen schlafender Pilger Krypta, Chor und Vorhalle der Kathedrale! Ähnliches wird von anderen Wallfahrtsorten - selbstverständlich auch im byzantinischen Kulturbereich - überliefert, wobei Heilungswunder fast zur Regel wurden. Auch die Heiltumsfahrten (nicht "Heiligenfahrten", vgl. 239), etwa nach Aachen gehören in diesen Kontext. Der Autor präsentiert zudem interessante zeitgenössische Illustrationen. Zu den häufig praktizierten, religiös akzentuierten Heilungstechniken gehörten auch die Verehrung von Heiligenskulpturen und -bildern, die Wallfahrt zu "heiligen Brunnen" und "Wassern" sowie der Erwerb von Souvenirs von Pilgerzentren, etwa von Medaillons oder "heiligem Wasser".
Genevra Kornbluth befasst sich in ihrem Beitrag mit einem verwandten Thema, der uralten Rolle von Amuletten, deren Kulturgeschichte sie aufgearbeitet hat. "Verborgene Kräfte" solcher Steine oder Kristalle - wie sollte man ihre Wirksamkeit anders erklären? - beschäftigten Philosophen, Ärzte und Theologen seit der Antike in gleicher Weise. Waren sie übernatürlich oder doch "natürlich" begründet? Allerdings ist die Feststellung Bugslags am Ende seines durch viele interessante Beispiele angereicherten Aufsatzes, dieser stelle in der Medizingeschichte "a step outside of a widely established 'Darwinian' sphere of attention" dar (265), zurückzuweisen. Sie zeugt - ungeachtet einiger zitierter Aufsätze - von einer geringen Kenntnis deutschsprachiger Publikationen und Bücher zu diesem Thema, in denen die positivistisch akzentuierte "Fortschrittsgeschichte" längst über Bord geworfen wurde (vgl. Heinrich Schipperges, Dietrich von Engelhardt, Klaus Bergdolt, Heinz Schott u.a).
Die Situation in England, speziell in Canterbury am Grab von Thomas Beckett, wird von Michael Lewis untersucht. Erinnerungsmedaillen und Ampullen mit "heiligem Wasser", die man hier erwerben konnte, trugen nicht zufällig häufig die Inschrift Optimus egrorum medicus fit Toma bonorum. Während die meisten Theologen - entsprechend der schon bei Ignatius von Antiochien, Clemens von Alexandrien, Ambrosius oder Augustinus belegbaren These, dass die spirituelle Heilung über der körperlichen stehe, ja diese letztlich unwichtig sei - die seelische Gesundung für entscheidend erachteten, suchten die Gläubigen bzw. Kranken, wie unzählige Pilgermedaillen zeigen, gerade auch ihre körperliche Gesundheit, ja ihr irdisches Glück bei unzähligen Schutzheiligen, auf die man insgeheim seine ganze Hoffnung setzte (dass nur ganz wenige Menschen im Krankheitsfall von studierten Ärzten behandelt werden konnten, spielte hier natürlich ebenfalls eine Rolle).
Virginia Langum analysiert in ihrem Beitrag die geheimnisvolle, im Mittelalter durchaus ambivalente Sicht des Zorns, der einerseits ethisch verwerflich erschien, ja als Laster galt, andererseits aber auch "säkular" bzw. medizinisch erklärt werden konnte, nämlich als Folge eines Überschusses an gelber Galle. Tatsächlich wurde das Laster des Zorns zuweilen durch den therapeutischen "Nutzen" legitimiert, den er aus säkular-medizinischer Sicht haben konnte, etwa durch die Korrektur von Schüchternheit oder Depression. Damit verbunden war die interessante Frage, inwieweit Sünden bzw. Laster auch krankheitsbedingt vorkommen konnten. Robert Grosseteste, Franziskaner und Bischof von Lincoln, war jedenfalls der Meinung, jeder Sünder tendiere aus seiner individuellen Komplexität von Säften, Elementen usw. zu ganz bestimmten Sünden oder Lastern. Thomas von Aquin sah passiones als unabdingbar für den Menschen an. Voller Zorn sich für Gerechtigkeit einzusetzen, erschien ihm sogar ethisch geboten, in dieser Situation ohne Zorn, also leidenschaftslos zu agieren (bzw. nicht nachdrücklich genug zu handeln) geradezu als sündhaft.
Leigh Ann Craig untersucht zwei wundersame Todesfälle und die angeblich folgende Wiedererweckung zum Leben. Sie weist darauf hin, dass die signa mortis relativ schematisch gedeutet wurden, dass aber auch - es klingt heute merkwürdig - Wunder gleichzeitig medizinisch, ja "rational" erklärt wurden. Fides und ratio schlossen sich hier nicht aus. Bei zwei vom "Tode" erwachten Kindern wurde dieses nicht alltägliche Phänomen der notfallmäßig gereichten Muttermilch zugeschrieben, die einerseits - in Analogie zur Maria lactans - bildlich gesprochen die Gnade des Wunders in den Leichname fließen ließ, andererseits aber auch - nach der Viersäftelehre, nach welcher die Muttermilch den kalten, trockenen, toten Organismus mit feuchter Wärme füllt - als lebenspendendes corrigens zur kalten Trockenheit des toten Körpers gelten konnte (dass tote Kinder Muttermilch saugen können, wird bereits mit dieser belebenden Eigenschaft der Milch begründet).
Eine weitere "duale", also säkular-medizinische wie metaphysische Erklärung ließen natürlich auch Hungersnöte zu, neben der Pest gefürchtete Geißeln des Mittelalters. Iona McCleery beginnt mit einer Zusammenfassung bisheriger Forschungen zu diesem Thema, um dann primär medizinische bzw. physiologische und paläoarchäologische Forschungen zu zitieren. Die theologische Komponente wird eher marginal gestreift, etwa durch Hinweise auf die Apokalyptischen Reiter. Doch auch hier wird klar: Nicht nur hinter der Pest, sondern hinter allen Unglückfällen und Katastrophen steht im Mittelalter im Zweifelsfall Gott, sofern nicht, von Strafe oder Prüfung (wie bei Hiob) absehend, der Teufel seine Hände im Spiel hat.
Dazu kommen wichtige Beiträge von William York zu Valesco de Taranta, einem Arzt des frühen 15. Jahrhunderts, der hier umfassend vorgestellt wird, und Nichola Harris, die über Volkspraktiken und (Selbst)therapien im England der Frühen Neuzeit berichtet, vor allem im Umfeld von Geburt und Abtreibung. Steine, Hebammen und Medizintraktate für Laien spielen hier eine wichtige Rolle, wobei die religiöse Komponente - nicht zufällig im Bereich des "Verbotenen" - naturgemäß (oder zum Schein?) in den Hintergrund tritt. Die Therapie bzw. Behandlung mit Steinen (meist Halbedelsteinen) ließ sich freilich ebenfalls bereits im Mittelalter nachweisen (Hildegard von Bingen, Albertus Magnus). Es mag hier freilich nur aus heutiger Sicht überraschen, dass die "Volksmedizin" im Mittelalter weitgehend von einer Fraktion von Geistlichen gefördert wurde, vor allem einigen Dominikanern und Franziskanern, aber auch Enzyklopädisten wie dem Dominikaner Vincenz von Beauvais, der im Speculum naturale weitgehend antike Autoritäten, aber z.B. auch Avicenna zitiert. Die Universitätsmedizin schien manchem Kleriker des 13. Jahrhunderts etwas unheimlich.
Das Buch ermöglicht interessante Einblicke in die Lebenswelt des Mittelalters, von der viele glauben, dass Menschen, die unter Seuchen, körperlichen Krankheiten, sozialem Elend und psychischen Störungen litten, oft genug vor der Alternative Medizin oder Metaphysik standen. In Wirklichkeit ergänzten sich Ärzte und Geistliche in ihren komplexen Hilfestellungen weitaus häufiger und leichter, als wir uns dies heute vorstellen. Im Gegensatz zur Zeit der Aufklärung galten Metaphysik und Ratio - im Sinne des Thomas von Aquin - durchaus als kompatibel.
Klaus Bergdolt