Christa Wolf: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952-2011. Herausgegeben von Sabine Wolf, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2016, 1040 S., ISBN 978-3-518-42573-2, EUR 38,00
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Gunnar Decker: 1965. Der kurze Sommer der DDR, München: Carl Hanser Verlag 2015
Dorothée Bores: Das ostdeutsche P.E.N.-Zentrum 1951 bis 1998. Ein Werkzeug der Diktatur?, Berlin: De Gruyter 2010
Lutz Fichtner: Die Industrie als Kunstmäzen und Auftraggeber in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005
Die Briefedition wird nicht eingeleitet, doch ein lesenswertes Nachwort unter dem schön missverständlichen Titel "Post, Post, Post" rundet jede frei organisierbare Lektüre ab. Die Herausgeberin weist hier wie in der Auswahl und Kommentierung der Dokumente fundiertes Wissen über den DDR-Literatur-Betrieb eindrucksvoll nach. Sie präsentiert einen der Persönlichkeit von Christa Wolf angemessenen literaturhistorischen Sachverstand und zugleich Einfühlungsvermögen, wie sie nur in jahrelanger archivarischer Arbeit wachsen können. In diesem Fall ist es Arbeit im Literaturarchiv der Berliner Akademie der Künste (AdK), das neben Autorennachlässen auch die von DDR-Kultur- und Verbandsfunktionären und die Hinterlassenschaft diverser Institutionen bewahrt. Seit 1994 ist darunter auch ein Nachlass von Christa Wolf (1929-2011): Manuskripte, Tagebücher und persönliche Sammlungen. Sabine Wolf (nicht verwandt mit der Autorin) führt dieses Archiv seit 1990 als stellvertretende und seit 2006 als reguläre Leiterin. Sie stand einer kompetenten Arbeitsgruppe vor; das Lektorat des Verlages lässt nichts zu wünschen übrig.
483 Briefe werden auf 931 Seiten chronologisch dargeboten, 90 Prozent davon erstmalig. Erläuterungen fußen auf dem Material der AdK sowie anderer Sammlungen und auf viel Fachliteratur. Ein kommentiertes Personenregister umfasst 1500 Einträge - Briefempfänger und in den Briefen erwähnte Personen, aber auch solche, die in den angemerkten Kontexten genannt bzw. zitiert sind.
Die Edition lebt von der Authentizität der Briefe als subjektiven Zeugnissen. Sie ergänzt andere Briefsammlungen [1], will jedoch im Unterschied zu Dialogen, die die Beziehung zu nur einer Person reflektieren, Spiegel geistiger, emotionaler und politischer Lebensäußerung in Gänze sein. Ihre Auswahl aus mehreren Tausend Briefen an über 300 Personen begründet Sabine Wolf mit Repräsentativität. Das Ergebnis scheint gelungen. Und in der Tat, die Adressaten sind von so großer Zahl, die behandelten Fragen und die Tonlagen so bunt, die markierten Probleme jeweils so zeitgemäß, die Konflikte so vielsagend und das dargebotene Bild von einer überaus kommunikativen, politisch engagierten, neugierigen, sensiblen und verletzbaren Schriftstellerin insgesamt so überzeugend, dass von einer Briefedition mit autobiografischer Ausstrahlung gesprochen werden kann. Einige der Briefe wurden seinerzeit nicht abgeschickt und belegen also weniger reale Mitteilung als vielmehr Haltung.
Die Sammlung unterstreicht die zentrale Bedeutung des epistolarischen Austausches für die Schriftstellerszene des 20. Jahrhunderts und insbesondere für Christa Wolf. Für sie waren Briefe immer Essays; sie verlangte sich beim Schreiben Klarheit ab. Seinerzeit mit Durchschlag "in die Maschine getippt" oder handgeschrieben, sind die von der Autorin selbst archivierten Briefe damit auch Zeugnisse einer streng organisierten Arbeitsweise. Die Edition bietet folglich ein Leseerlebnis besonderer Art: Sie macht mit Christa Wolfs Briefen einen wichtigen, ja existenziellen Teil ihres schriftstellerischen Wirkens über Jahrzehnte hinweg lebendig. Sie zeigt ihr Reifen als Autorin und politische Frau in der DDR, den Wandel persönlicher Haltungen und Ansichten, die Beständigkeit gewisser Grundwerte, die Art, sich zu behaupten, sich Schwächen und Versagen einzugestehen und Herausforderung zu suchen. Vor- und hintergründig sind auch die politisch gesetzten Schranken dieser Briefkommunikation (Bespitzelung) angesprochen.
Den frühen Jahren ist wenig Platz eingeräumt. Briefe der Jahre bis einschließlich 1959 nehmen 40 Seiten ein. Die 1960er-Jahre, der Beginn der Suche Christa Wolfs nach literarischer Eigenständigkeit und nach Eigensinn, die Jahre erster politischer Konflikte bis zur Zäsur des Prager Frühlings, nehmen schon dreimal so viele Seiten ein. 1969 wurde Christa Wolf 40 Jahre alt, die folgenden zwei Jahrzehnte ihres Wirkens sind mit je über 200 Seiten Brieftexten vertreten. Aus dem ersten Jahrzehnt nach dem Mauerfall stammen 125 Briefe auf 230 Seiten; diese intensive Briefeschreiberei erklärt sich mit den nun freien Kommunikationsbedingungen, allerdings auch mit einem außerordentlichen öffentlichen Rechtfertigungsdruck im Zusammenhang mit Anfeindungen und Stasi-Vorwürfen und dem entsprechend hohen Bedarf an freundschaftlichem Austausch. Für das letzte Lebensjahrzehnt stehen Briefe auf knapp 100 Seiten.
Selbstredend bleibt im Archiv noch so manches zu ergründen, doch Entdeckungen sind in dieser Edition schon möglich. Der Germanist Oliver Pfohlmann hat bereits einige markiert. [2] Sollte sich das Interesse irgendwann einmal nicht mehr so vordergründig um die Frage ranken, warum - um alles in der Welt - die Sozialistin Christa Wolf in der DDR blieb, deren politisches System sie früh verkommen sah und der sie schließlich auch keine Träne nachweinte, könnten vier Analysebereiche reizvoll sein: Erstens, der mehr oder minder öffentliche Austausch mit Autorenkollegen, Literaturwissenschaftlern und Verlagen darüber, was Literatur soll, kann und wie sie sein muss, wie sich grundsätzlich Macht, Geist und Gesellschaft zueinander verhalten, und konkret darüber, was sozialistische Utopien und realer Staatssozialismus wechselwirkend in Literatur und Kunst vermögen bzw. verhindern (vermochten bzw. verhinderten). Zweitens, die nur persönlich mit Vertrauten kommunizierten Gedanken zu genau diesen und anderen Fragen, Zeugnisse individueller, nichtöffentlicher Wahrnehmung, persönlich kritischer Selbstreflexion. Drittens eine zweckgebundene, aus politischer Positionierung abgeleitete Kommunikation mit Funktionsträgern des Realsozialismus: Stellungnahmen, Proteste, Gesuche. Viertens, der Kontakt zu Lesern als Partnern im gesellschaftlichen Dialog und das Hinterfragen der Rolle des Autors darin.
Das Buch ist, nicht zuletzt wegen vorbildlicher Textgestaltung, eine großartige Vorleistung für weitere Forschungen zu Christa Wolf. Die Kommentierung der Briefinhalte bietet durch weitgehende Klärung dazugehöriger Sachverhalte und Hintergrundereignisse beste Grundlagen für eine historisch-wertende Einordnung. Chapeau!
Anmerkungen:
[1] Brigitte Reimann / Christa Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen und Tagebüchern 1963-1973, hg. von Angela Drescher, Berlin / Weimar 1993, erweiterte Neuausgabe mit einem Vorwort von Gerhard Wolf, Berlin 2016; Christa Wolf / Franz Fühmann: Monsieur - wir finden uns wieder. Briefe 1968-1984, hg. von Angela Drescher, Berlin 1995; Christa Wolf / Anna Seghers: Das dicht besetzte Leben. Briefe Gespräche, Essays, Berlin 2003; Christa Wolf / Charlotte Wolff: Ja, unsere Kreise berühren sich. Briefe, München 2004. Daneben erschienen Briefe in Werksausgaben seit den 1990er-Jahren in Berlin beim Aufbau Verlag und in München bei Verlag Luchterhand.
[2] Oliver Pfohlmann: Christa Wolf. Briefauswahl als innere und äußere Biografie (1.1.2017), http://www.deutschlandfunk.de/christa-wolf-briefauswahl-als-innere-und-aeussere-biografie.700.de.html?dram:article_id=375271 [4.9.2017].
Elke Scherstjanoi