Roland Wenzlhuemer: Globalgeschichte schreiben. Eine Einführung in 6 Episoden, Stuttgart: UTB 2017, 302 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-8252-4765-2, EUR 22,99
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Es ist ungewöhnlich, wenn eine Einführung in die Globalgeschichte mit der Feststellung beginnt "Globalgeschichte wird gemeinhin überschätzt - und zwar in ihren Möglichkeiten" (9) und dann die Schlussbilanz diesen Satz ins Gegenteil verkehrt, indem "überschätzt" durch "unterschätzt" ersetzt wird (266). Überschätzt, so wird man diesen Widerspruch wohl verstehen dürfen, weil - so der Autor - im Boom an Globalgeschichten die Erwartungen an sie überhöht wurden und ihre Konturen verschwammen; unterschätzt, weil man das, was sie leisten kann, bislang nicht scharf genug bestimmt hat. Sie soll nicht mit dem Anspruch auftreten, eine neue Meistererzählung zu bieten, sondern andere Perspektiven auf die Geschichte ergänzen, erweitern und vervollständigen. Im Idealfall werde sie "sich selbst obsolet" machen, indem sie von der Notwendigkeit überzeugt, dass künftig jede Geschichtsschreibung "die Rolle globaler Verbindungen immer mitdenkt" (267). Dazu gehöre auch festzustellen, wenn sie unbedeutend waren. Nicht überschreiben, sondern einschreiben lautet Wenzlhuemers Empfehlung. Vermutlich würde er das ebenso von der Sozial- und der Genderhistorie oder von anderen Zugängen zur Geschichte sagen - ihre größte Wirkung entfalten sie, wenn sie sich keinen eigenen Bereich schaffen, sondern jede Art Geschichtsschreibung durchziehen.
Der Kern von Wenzlhuemers Argumentation lautet: "Globale Verbindungen sind die Grundbeobachtungselemente der Globalgeschichte." (221) Dieser Satz wird in leichten Variationen vielfach wiederholt. Zu den Variationen gehört, dass "global" durch "interregional" oder "überregional" ersetzt oder begleitet wird. "Globalisierung [ist] im Kern nichts anderes [...], als der Prozess der Loslösung sozialer Interaktion von räumlicher Nähe." (29) Globalgeschichte bedeutet für den Autor also, Verbindungen unterschiedlichster Art zwischen entfernteren Regionen zu betrachten.
Wenzlhuemers Buch ist konzipiert als "Einführung in die Forschungspraxis" (24), Theorie und Empirie verbindend. Zu seinem theoretischen Anspruch gehört, die Verwendungsvielfalt des Begriffs Globalisierung zu vereinheitlichen. "Globalisierung ist ein Prozess, in welchem sich die Interaktionsmuster von Menschen zunehmend mehr Verbindungen über lange Distanzen und damit über Grenzen ganz unterschiedlicher Art einfügen." (29) Deshalb fragt der Autor: Was sind Verbindungen? Um diese Frage ist das Buch zentriert. Globalgeschichte müsse klären, "wie durch das Handeln von Menschen globale Verbindungen entstehen und wie diese wiederum auf das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen zurückwirken." (20) Bislang habe die Globalgeschichte Verbindung meist nur deskriptiv und ohne theoretische Reflexion untersucht. Es gehe darum, nach "dem analytisch Besonderen globaler Verbindungen", nach ihrer spezifischen Qualität zu fragen. Darin liege "ein konzeptuelles Abstraktum, das den Kern des Erkenntnisinteresses der Globalgeschichte umfasst." "Dieses Abstraktum soll für die Globalgeschichte forschungsleitend sein", denn es macht sie "konzeptuell eigenständig". (22)
Es ist nicht einfach, sich die Qualität globaler Verbindungen als ein Abstraktum zu vergegenwärtigen, das die Globalgeschichte von anderen Zugängen zur Geschichte abhebe. Das liegt auch daran, dass der Autor nicht erläutert, was eine Verbindung zu einer globalen = interregionalen = überregionalen werden lässt. Da seine sechs Fallbeispiele sich alle mit interkontinentalen Kommunikations- und Transportverbindungen befassen, wird man annehmen dürfen, dass global interkontinental meint. Ausdrücklich gesagt wird das nicht. Das "Globale" sei jedoch nur "eine Möglichkeit und nicht der vorgegebene Beobachtungsrahmen der Globalgeschichte." (262) Wie sich Mikro- und Makrogeschichte verbinden können, lassen die Fallbeispiele erkennen.
Die sechs Fallbeispiele, so betont der Autor, spiegeln mit ihrer Konzentration auf das "lange 19. Jahrhundert" und den europäischen, insbesondere den britischen Kolonialismus seine Forschungsinteressen wider, doch sie seien so ausgewählt, dass sie diejenigen Felder umfassen, die für die Beobachtung von Interaktionen und ihren Veränderungen zentral sind: Verbindungen, Raum, Zeit, Akteure, Strukturen und Transit. Jedes Kapitel bietet eine Bilanz - der Autor nennt sie Redux -, die nicht nur Ergebnisse bündelt, sondern auch den Zusammenhang zwischen den Kapiteln herausarbeitet.
Im Kapitel "Verbindungen: Der große Mondschwindel" wird gezeigt, wie ein Bündel von Verbindungen und Nicht-Verbindungen im transatlantischen Raum zusammenspielte, so dass eine spektakuläre Lügengeschichte ihre interregionalen Wirkungen entfalten konnte. Interregional bedeutet hier nicht global. Darauf geht der Autor jedoch nicht ein. Er betont jedoch zu recht, im kleineren Raum wäre "das Bündel gänzlich anders geschnürt gewesen." (77). Im Kapitel "Raum: Anbindung und Isolation" wird an der kleinen Insel Fanning, Knotenpunkt internationaler Telegrafenlinien, wie in einer "Laborsituation [...] die gleichzeitige Einbindung der historischen Akteure in ganz unterschiedliche Räume" durchgespielt (103). Im Kapitel "Zeit: Telegrafie und Zeitstrukturen" wird betrachtet, wie die telegrafische Kommunikation Zeitstrukturen und auch das Raum-Zeit-Verhältnis verändert. Das Kapitel "Akteure: Meuterei auf der Bounty" will Akteure als "Scharniere in den globalen Verbindungszusammenhängen" (149) sichtbar machen. Das folgende Kapitel "Strukturen: Durchbruch am Mont Cenis" fragt nach dem Zusammenwirken von Akteuren und Strukturen. Es zeigt, wie globale Verflechtungen strukturbildend wirken, indem sie handlungsleitend werden. Die Frage nach der spezifischen Qualität globaler Verbindungen kulminiert im Kapitel "Transit: Die Flucht von Dr. Crippen". Hier geht es um die Wirkmächtigkeit von Verbindungen als Mediatoren. "Verbindungen verbinden nicht nur, sie sind auch selbst historische Schauplätze. Sie haben eine Dauer, eine zeitliche Dimension" und einen "eigenen Raum" (222). In der Transitphase funktionieren Verbindungen nach eigenen Regeln, die neue Bedingungen für die Akteure schaffen. Jede Verbindung ist ein Transit und sollte als eine spezifische Raum-Zeit-Situation untersucht werden.
Wenzlhuemer beginnt seine Erörterung "Globalgeschichte schreiben" mit den drei Hauptvarianten globalhistorischer Forschung, die Sebastian Conrad in seiner Einführung identifiziert [1]: Globalgeschichte als Syntheseleistung, als Analyse von Austauschprozessen und als Gegenstand. Conrad präferiert die dritte Variante, Wenzlhuemer hingegen geht davon aus, bislang habe die Globalgeschichte zu ungenau bestimmt, was globale Verbindungen sind, wie und warum sie geschaffen werden, wie sie auf die Menschen wirken. Verbindungen sollen als "eigenständige historische Phänomene ernstgenommen werden" (33). Dieses Programm öffnet ein weites empirisches Untersuchungsfeld, es ist theoretisch anspruchsvoll und doch auch konzeptuell bescheiden, denn es verweigert der Globalgeschichte "einen Alleinstellungsanspruch" und fordert stattdessen "Komplementarität" zu anderen Zugängen zur Geschichte (267).
Anmerkung:
[1] Sebastian Conrad: Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013; ders.: What is Global History? Princeton / Oxford 2016.
Dieter Langewiesche