Jürgen W. Falter (Hg.): Junge Kämpfer, alte Opportunisten. Die Mitglieder der NSDAP 1919-1945, Frankfurt/M.: Campus 2016, 499 S., ISBN 978-3-593-50614-2, EUR 39,95
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1945 hatte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei knapp neun Millionen Mitglieder und erfasste über zehn Prozent der Bevölkerung des "Großdeutschen Reiches". Diese Zahl entsprach dem "Willen des Führers" (29) Adolf Hitler. Eine wichtige Erkenntnis aus diesen Angaben ist: "Keine Partei war jemals erfolgreicher in der deutschen Geschichte." (9) Diese historischen Fakten sind nur wenigen Menschen bekannt. Nahezu unbekannt ist auch, dass rund eine Viertelmillion Mitglieder die NSDAP wieder verlassen haben: "Schätzungsweise 60 % der Mitglieder, die in den Jahren 1925-1929 der Partei beigetreten waren, verließen die Partei bis zum Zusammenbruch des 'Dritten Reiches' wieder." (41) Die aus diesen Zahlen und anderen Entwicklungen herrührenden Fragen sind von der vom Herausgeber Jürgen W. Falter, Forschungsprofessor an der Universität Mainz, und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seines Forschungsprojekts "Die Mitglieder der NSDAP 1925-1945" und anderen bearbeitet worden. Grundlage der Forschungen waren die erhalten gebliebenen Teile von zwei Mitgliedskarteien: "Die Bestände der Reichskartei sind nur noch zu knapp 45 Prozent erhalten, die der Gaukartei zu rund 78 Prozent." (11) Daraus ergibt sich aber immerhin, dass "rund 90 Prozent aller jemals in die Partei eingetretenen Personen auch heute noch in zumindest einer dieser beiden zentralen Mitgliederkarteien aufgeführt sind." (11) Damit liegt eine solide Forschungsgrundlage vor.
Die Untersuchungen beginnen mit einführenden theoretischen Überlegungen des Herausgebers zu der Frage, wer Mitglied der NSDAP werden durfte und wer nicht, Informationen zu den Motiven und dem Forschungsstand, ergänzt durch Überlegungen von Jonas Meßner zur Erklärung von NSDAP-Beitritten und -Austritten: "Vereinfacht formuliert traten anfangs wohl eher überzeugte Nationalsozialisten der Partei bei, die Hitler als charismatischen Führer ansahen und von der Bewegung fasziniert waren, wohingegen es sich nach 1933 bei einem Großteil der Beitrittswilligen um Opportunisten und 'Konjunkturritter' gehandelt haben dürfte, also Personen, die sich in erster Linie einen eigenen - zumeist materiellen - Vorteil von der Mitgliedschaft versprachen." (53)
Im Anschluss an die Darstellungen von Kristine Khachatryan und dem bereits genannten Meßner zu den empirischen Grundlagen der Analyse (Stichprobenziehung und Datenerklärungen) werden im Hauptkapitel der Studie die wesentlichen Untersuchungsergebnisse vorgestellt. Falter / Khachatryan fragen zunächst, wie viele NSDAP-Mitglieder es gegeben hat und wie viele davon überzeugte Nationalsozialisten bzw. Nationalsozialistinnen waren: "Typische NSDAP-Mitglieder dürften [...] eher die opportunistischen Mitläufer als die weltanschaulich 150-prozentig Überzeugten gewesen sein." (194) Anschließend entwickelt die bereits erwähnte Khachatryan eine Typologie der NSDAP-Neumitglieder. Weiter untersucht Alexander Röckl, "inwieweit eine katholische oder linke politische Tradition einer Gemeinde die Anfälligkeit der dort lebenden Individuen gegenüber einem Beitritt zur NSDAP verringert hat" (241). Mit Beitritten und Mitgliederstruktur in Zeiten der Aufnahmesperre hat sich Evelyn Otto auseinandergesetzt. Die eingangs angesprochene Frage des Austritts aus der NSDAP kann Meßner nur vorläufig und thesenartig beantworten. So erscheint ihm die Annahme, dass Personen ihre nationalsozialistische Weltanschauung ablegten und zu einer demokratischen Überzeugung gelangten schon deshalb als unwahrscheinlich, "da viele der Ausgetretenen wieder in die Partei zurückkehrten" (295). Auch die Fragen zu den weiblichen Mitgliedern kann Anna Schley noch nicht befriedigend beantworteten und sie verweist auf die "Notwendigkeit, neue Theorien zu entwickeln." (316)
Im nächsten Hauptkapitel werden regionale und lokale Sonderaspekte angesprochen. Es geht um sudetendeutsche und österreichische NSDAP-Mitglieder, Parteigenossen in Danzig-Westpreußen und im Saargebiet, bayerische und rheinische Ortsgruppen sowie den "Sonderfall Österreich".
In seinem Resümee hebt Falter u.a. hervor, "dass die Partei während etwa der Hälfte ihrer Existenz nach der Neugründung 1925 für die Allgemeinheit geschlossen war." (467) Ergänzend ist u.a. noch hervorzuheben: "Trotz teilweise massiven Drucks war niemand gezwungen, sich der Partei anzuschließen. [...] So unterschiedlich die Motive gewesen waren, der Partei beizutreten, erfolgte der Beitritt so gut wie immer aufgrund einer individuellen Entscheidung." (475) Sicherlich hat er recht, "keine Kollektivschelte der Väter- und Großvätergeneration zu betreiben, sondern stets den Einzelfall zu betrachten, bevor man sein Urteil fällt." (475) Da es in diesem Sammelband nicht möglich war, alle denkbaren Fragestellungen zu behandeln, verweist Falter auf seine in Arbeit befindliche Monografie.
Kurt Schilde