T. A. Bazarova: Russian Diplomats at the Ottoman Court: Statejnye spiski of Petr Shafirov and Mikhail Sheremetev in 1711 and 1712. Research and documents, St. Petersburg: Istoričeskaja illjustracija 2016, 863 S., ISBN 978-5-89566-156-7
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Die Auseinandersetzung Russlands mit dem Osmanischen Reich leitete den Beginn einer Umdeutung der Rolle Russlands auf der europäischen politischen Bühne seitens der westeuropäischen Großmächte ein. Am Ende des 17. Jahrhunderts trat das Zarenreich dem europäischen Bündnissystem bei. Vor dem Hintergrund der Friedensverhandlungen mit dem Osmanischen Reich in den 1690ern setzte sich eine allmähliche Ablösung der alten russischen diplomatischen Tradition in Gang, nachdem Zar Peter I. einen Generationswechsel an der Spitze der russischen Diplomatie eingeleitet hatte. Petr Šafirov und Michail Šeremetev gehörten zu den Vertretern dieser neuen Generation der zarischen Diplomaten, an deren Spitze der Gesandte Peters I. bei der Hohen Pforte, Petr Tolstoj, stand.
Sowohl die Diplomaten der "alten Schule" als auch die petrinischen Gesandten an den Höfen Europas und der Osmanen hinterließen eine Fülle von Berichten, die so genannten Statejnye spiski, die seit dem 15. Jahrhundert belegbar sind. Es handelt sich hierbei zum einen um eine Form von Dokumenten zu verschiedenen Bereichen der staatlichen Verwaltung, zum anderen stellten die Statejnye spiski die offizielle Berichterstattung der Gesandten an den Posol'skij prikaz (das Auswärtige Amt im vorpetrinischen Russland) dar. In der diplomatischen Praxis fanden sie die größte Verbreitung und entwickelten sich zu einer Gattung des offiziellen Gesandtschaftsberichts. Umso erstaunlicher erscheint die Tatsache, dass dieser über mehr als 300 Jahre entstandene Fundus an Berichten in der russischen und westlichen Forschung sowohl in der Geschichts- wie auch der Literaturwissenschaft kaum Beachtung findet, liefert er doch vielfältige Einblicke in die Geschichte der diplomatischen Praxis sowie der Beziehungen Russlands mit verschiedenen Staaten, ganz zu schweigen von seinem Wert für die literatur- und kulturhistorische Reiseforschung.
T. A. Bazarova versucht mit einer Quellenedition von zwei Texten der Statejnye spiski aus dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, diese Forschungslücke wenn nicht zu schließen, so doch zu verkleinern. Die beiden Quellen in dieser Edition sind mit Bedacht gewählt: Die Geschichte der Šafirov-Gesandtschaft war bislang stets überdeckt von der weit besser erforschten Figur Tolstojs. Beide Quellen gehören einer späteren Phase in der Geschichte der Gattung an, als die Statejnye spiski den Charakter von Berichten in Tagebuchform trugen, weisen aber auch einige Besonderheiten auf, die durch die Umbrüche der petrinischen Epoche und die Unwägbarkeiten der Gesandtschaft selbst bedingt sind: Petr Šafirov und Michail Šeremetev kamen 1711 nach Istanbul, nach dem Abschluss des russisch-osmanischen Friedensvertrages in der Folge des missglückten Feldzugs Peters I. am Fluss Prut. Tolstoj befand sich seit 1710 in Gefangenschaft, Šafirov und Šeremetev kamen daher als bevollmächtigte Minister und Geiseln des Sultans, um die Erfüllung der Vertragsbedingungen durch Russland zu garantieren. Nach dem Ende der Mission verfassten die beiden Diplomaten auf Aufforderung des Zaren im Jahre 1721 den Gesandtschaftsbericht. Diese Quelle umfasst mehrere Konvolute, die in verschiedenen Archiven in Russland aufbewahrt werden.
Bei der von Bazarova besorgten Quellenedition handelt es sich um eine historisch kommentierte und archäographisch aufbereitete Aufarbeitung der Statejnye spiski. Das Buch besteht aus zwei Einführungen zu historischem Kontext und Gattungsgeschichte, der eigentlichen Edition sowie einem erklärenden Apparat. Die historische Einführung bietet eine knappe, aber sehr informative Darstellung der Geschichte der russisch-osmanischen Beziehungen vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis zum Ende des Nordischen Krieges 1721 sowie der russischen Gesandtschaften bei der Hohen Pforte in diesem Zeitraum. An konkreten Beispielen zeigt die Autorin das für das späte 17. Jahrhundert charakteristische Spannungsfeld zwischen der überkommenen russischen und der neuzeitlichen westeuropäischen diplomatischen Tradition, die fünfzehn Jahre später Petr Šafirov als eine Art homo novus der russischen Diplomatie verkörpern sollte. Die Darstellung des russischen Lernprozesses, in dem besonders die griechischen Dragomane der Pforte eine wichtige Rolle spielten, ergänzt sie durch Einblicke in die Praktiken und Lebenswelten des diplomatischen Korps von Istanbul. Diese sind umso spannender, da gerade zu solchen Fragestellungen der Kultur- und Alltagsgeschichte die meisten Gesandtschaftsberichte eher sperrige Informationen liefern. Nach einer Darstellung der Beziehungen der russischen Gesandten mit den etablierten westeuropäischen Diplomaten, lotet Bazarova die Handlungsräume der russischen Diplomaten aus, insbesondere unter den Bedingungen der Isolation oder gar Gefangenschaft. Hier offenbart sich ein weitreichendes Geflecht an - offiziellen und geheimen - Spionage- und Kontaktnetzwerken. Die Welt der europäischen Diplomaten in Pera erscheint hier also als weitgespannter und mehrschichtiger Kommunikations- und Handlungsraum verschiedener Akteure. Bazarova zeigt ebenso die Kontaktwege der zwischenimperialen Kommunikation, indem sie die Post(um)wege der diplomatischen Korrespondenz sowie die Reisewege der russischen Gesandten nachzeichnet. Hiermit deutet sie eine Fragestellung für eingehendere Untersuchungen zu den Kommunikationsverflechtungen zwischen den Imperien an. Das ewige zeremonielle Tauziehen zwischen russischen Diplomaten und der Hohen Pforte, das häufig noch vor dem Einzug in Istanbul begann, wird ebenso thematisiert, aber auch die Rolle der westlichen Diplomaten in diesem Krieg der Gesten. Insgesamt bietet Bazarova damit eine aufschlussreiche historische Einführung, die die Quellen kontextuell einrahmt und den diplomatischen Alltag der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld zwischen europäischer und osmanischer Tradition thematisiert.
Im zweiten Abschnitt erörtert Bazarova die Geschichte der Gattung Statejnye spiski. Sie zeigt, dass diese Berichte ein komplexes, strukturell offenes Genre darstellten, dessen Form sich im Laufe der Zeit und womöglich unter dem Einfluss der politischen Konjunkturen wandelte. Da diese Berichte, zumindest vor dem 18. Jahrhundert, aufgrund von Artikeln oder Fragebögen verfasst wurden, stellt sich aus meiner Sicht die Frage, ob Statejnye spiski bestimmten Regeln und literarischen Kanons folgten. Als Gegenstand vergleichender Überlegungen böte sich hier die türkische Gattung der sefaret-name an. Einem solchen Bericht wohnt selbstverständlich eine politische Dimension inne; daraus ließe sich die Frage ableiten, inwiefern politische Funktion und Vorgaben für das Genre eine Rolle spielten. Der subjektive Faktor - die Autoren schilderten oft ihre persönlichen Eindrücke - wirft die Frage nach Komplexität und Literarizität der Statejnye spiski auf, zumal sich die Form zu einer eher freieren Erzählweise wandelte, die nicht mehr auf den ursprünglichen stat'i (Artikeln) als Struktur- und Inhaltsvorgabe beruhte.[1] Hier geht Bazarova auch kurz auf formale Eigenschaften und graphologische Charakteristik der beiden Texte ein, macht deren Entstehungsgeschichte nachvollziehbar und die beteiligten Akteure sichtbar. So arbeitet sie wertvolle Informationen zu den Mechanismen der Arbeit der Šafirov-Gesandtschaft in einer politisch für Russland sehr schwierigen Situation heraus: Die Texte helfen nicht nur das Personal zu rekonstruieren, sondern auch die Rollen der beteiligten Akteure in den Verhandlungen mit der Hohen Pforte genauer nachzuvollziehen. Die Praxis der schriftlichen diplomatischen Kommunikation - wem und in welcher Form schrieben Šafirov und Šeremetev? - lässt sich aufgrund der beiden Quellen rekonstruieren. Allerdings enthalten beide im Unterschied zu dem sehr umfangreichen Bericht von Tolstoj keine Angaben zu Geographie, Bevölkerung und Institutionen des Osmanischen Reichs.
Der dritte und längste Abschnitt enthält den Text der beiden Statejnye spiski, dem eine kurze Einführung mit hilfreichen Informationen wie etwa zur Paginierung vorangestellt wird. Die in die Originale eingefügten Dokumente (zarische Erlasse, Berichte und Briefe) werden in der Edition in voller Länge beibehalten. Auch orthographische und stilistische Besonderheiten wurden nicht verändert. Einzig Interpunktion und Absatzgliederung folgen im Interesse der Lesbarkeit modernen Regeln. Ergänzt wird die Edition durch ein Glossar, Kommentare zu wenig oder gar nicht mehr gebräuchlichen Wörtern und Ausdrücken sowie ein Namens- und Ortsregister. Zu kritisieren ist die Platzierung der Anmerkungen jeweils am Ende der einzelnen Abschnitte - hier wären Fuß- oder zumindest Endnoten dem Leser eher entgegengekommen. Auch die Kommentare wären als Fußnoten praktikabler.
Insgesamt ist dies eine gelungene Edition einer bisher wenig bekannten Quelle, die darüber hinaus vielfältige Anknüpfungspunkte für die Erforschung der (Kultur-)Geschichte der Diplomatie und der russisch-türkischen Beziehungen bietet.
Anmerkung:
[1] Für eine Analyse osmanischer sefaretnames als Ego-Dokumente siehe Denise Klein: The Sultan's Envoys Speak. The Ego in 18th-Century Sefâretnâmes on Russia. In: Ralf Elger / Yavuz Köse (eds.): Many Ways of Speaking About the Self, Wiesbaden 2010.
Alexander Bauer