Sandro Liniger: Gesellschaft in der Zerstreuung. Soziale Ordnung und Konflikt im frühneuzeitlichen Graubünden (= Bedrohte Ordnungen; Bd. 7), Tübingen: Mohr Siebeck 2017, X + 362 S., ISBN 978-3-16-154933-5, EUR 59,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Thomas Lau: Unruhige Städte. Die Stadt, das Reich und die Reichsstadt (1648-1806), München: Oldenbourg 2012
Harriet Rudolph (Hg.): Die Reichsstadt Regensburg und die Reformation im Heiligen Römischen Reich, Regensburg: Schnell & Steiner 2018
Andreas Flurschütz da Cruz: Zwischen Füchsen und Wölfen. Konfession, Klientel und Konflikte in der fränkischen Reichsritterschaft nach dem Westfälischen Frieden, Konstanz: UVK 2014
Der "Hexenkessel Graubünden" [1] hat immer wieder die Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft auf sich gezogen. Sei es, dass man am Beispiel des Freistaats der Drei Bünde frühe Formen der Demokratie nachweisen wollte, sei es, dass man glaubte, etwa am Beispiel der "Bündner Wirren" die unbezähmbare anarchische Energie der Schweizer Bergbauern belegen zu können. Mit seiner bei Rudolf Schlögl in Konstanz entstandenen Dissertation geht Sandro Liniger ganz andere Wege. Anstatt die für europäische Beobachter ungewöhnlichen Rituale, wie den "Fähnlilupf", am Maßstab der externen ideengeschichtlichen Diskurse eines Jean Bodin zu messen, versucht er die Graubündener Gesellschaft von innen her zu verstehen und anhand ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten zu interpretieren. Die Arbeit bietet damit zwar keine neuen Fakten und erschließt auch keine bislang unbeachteten Quellen. Sie ordnet vielmehr Bekanntes neu und betrachtet die Ereignisse in Graubünden zwischen 1550 und 1620 aus einer Perspektive, die eine völlig andere, überaus anregende Interpretation der Ereignisse nahelegt.
Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die Wahrnehmung der spezifischen Besonderheiten der in den Drei Bünden zusammengeschlossenen 52 Gerichtsgemeinden Graubündens. Die Topographie und die besonderen klimatischen Bedingungen der Zentralalpen, die Anforderungen einer arbeitsintensiven Almwirtschaft, die geostrategische Bedeutung der Bündner Pässe, aber auch der kapitalintensive Söldnermarkt trugen dazu bei, dass sich die Dorfgemeinschaften Graubündens von der Dominanz mittelalterlicher Feudalherrn emanzipiert und eine eigene Form des Zusammenlebens entwickelt hatten. Mit dem an den Arbeiten des französischen Ethnologen Pierre Clastres orientierten Konzept einer "Gesellschaft in der Zerstreuung" gelingt es Liniger überzeugend, die scheinbar archaischen Mechanismen stimmig zu interpretieren. Er präsentiert damit einen Deutungsansatz, der insbesondere die performativen Elemente stärker betont, als das bei dem von Peter Blickle entwickelten Konzept des Kommunalismus der Fall ist. [2] Die im ersten Abschnitt seiner Arbeit vorgestellten gesellschaftlichen Praktiken der Schwörtage oder der Mediation werden als konstitutiv für eine Gesellschaft verstanden, die sich gerade durch die ritualisierte Erneuerung ihrer Bündnisse immer wieder neu als Gemeinschaft konstituierte. Dabei ging es immer auch darum, divergierenden Kräfte einerseits und zentralisierenden Bestrebungen des meist in Chur tagenden Bundstags andererseits auszubalancieren.
Zentrale Bedeutung hatten dabei etwa 26 große Familienverbünde, die über viele Jahrzehnte die entscheidenden politischen Mandatsträger stellten. Diesen zentralen Figuren der politischen Macht wendet sich Liniger im zweiten Kapitel zu. Am Beispiel der Salis und der Planta kann er zeigen, dass diese Klans zwar überall in Graubünden Schlüsselpositionen, wie etwa die des Landammanns, besetzten und als einflussreiche Patrone eine umfangreiche Klientel um sich scharten. Er macht aber gleichzeitig deutlich, dass es sich stets um eine ausgesprochen fragile Machtposition gehandelt hat. Aufwändige Einsetzungsrituale hatten die Funktion, der Führungselite immer wieder vor Augen zu führen, dass sie nicht Herrscher über Untertanen, sondern nur temporär berufene Herren über freie Bauern waren.
Die gemeinsame Verwaltung der Anfang des 16. Jahrhunderts eroberten Untertanengebiete des Veltlins eröffnete einerseits den Zugang zu großem Reichtum für diejenigen, denen es gelang, eine der begehrten Positionen als Gouverneur zu erlangen. Gleichzeitig führte die Ausbeutung dieser Regionen nicht nur zu Spannungen mit der dortigen Bevölkerung. Das in den Händen weniger kumulierte Vermögen und deren wachsende politische Macht bedrohten das gesellschaftliche Gleichgewicht innerhalb der Drei Bünde. Die bislang überwiegend als Ausdruck revolutionärer Umsturzbewegungen verstandenen "Fähnlilupf" und "Strafgerichte" interpretiert Liniger in seinem dritten Kapitel als ritualisierte Formen kollektiver Abwehrmechanismen. Er kann zeigen, dass es sich dabei um regelgeleitete, strukturierte Versammlungen bewaffneter Verbände aus den Graubündener Gemeinden gehandelt hat, die in als krisenhaft erlebten Phasen die etablierten Gremien außer Funktion setzten, an ihrer Stelle Entscheidungen trafen und über Wochen und Monate hinweg die Macht an sich zogen. Ziel war dabei jedoch nicht, die bestehende Ordnung umzustürzen. Es ging vielmehr darum, so Liniger, deutlich zu machen, dass es die Gemeinden waren, von denen die Macht ausging und nicht die großen Herren. Diese Deutung macht es nachvollziehbar, dass die bei einzelnen Strafgerichten in großer Zahl ausgesprochenen Geldbußen, Verbannungen und sogar Todesstrafen in aller Regel nicht vollzogen wurden. In den meisten Fällen konnten die öffentlich Verurteilten wenige Monate später ihre alten Positionen wieder einnehmen.
Das Zusammenwirken all dieser Faktoren scheint während des gesamten 16. Jahrhunderts eine Art Fließgleichgewicht ermöglicht zu haben. Erst das Auftreten radikaler calvinistischer Prediger zerstörte zu Beginn des 17. Jahrhunderts die labile Balance. Mit dieser These bietet Liniger in seinem abschließenden Kapitel eine neue Deutung der als "Bündner Wirren" in die Geschichte eingegangenen blutigen Konflikte, die Graubünden in den Strudel des Dreißigjährigen Krieges hineinzogen. Nicht die Intervention Habsburgs, Frankreichs oder Venedigs, sondern die militante Agitation eines kleinen Kreises junger calvinistischer Geistlichen sei für die Eskalation der Gewalt verantwortlich gewesen. Konnten die sozialen, ökonomischen und konfessionellen Gegensätze früher durch die beschriebenen Mechanismen einer "Gesellschaft in der Zerstreuung" überbrückt werden, so führte ihr Auftreten zu einer Verhärtung der Fronten und zu einer Vertiefung der gesellschaftlichen Gräben.
Wie ein roter Faden durchzieht die Arbeit Linigers die wiederholte Betrachtung der politischen Kommunikation in einer Gesellschaft, die auch durch die Topographie bedingt vielfältig parzelliert war und ohne urbane oder herrschaftliche Zentren auskommen musste bzw. konnte. Gerade weil die von Kaufleuten, gartenden Knechten, durchreisenden Gesandtschaften oder den zahlreichen Boten verbreiteten Gerüchte stets offene Ohren fanden, bemühte sich der Bundstag frühzeitig darum, ein offizielles Kommunikationsmonopol zu etablieren. So durften etwa nur ausdrücklich autorisierte "Mittler" in den Gerichtsgemeinden über aktuelle Bündnisangebote externer Mächte berichten und zur Meinungsbildung in den verschiedenen Tälern beitragen. Diese Bemühungen, die politische Kommunikation zu kontrollieren, sind immer wieder gescheitert, was darauf verweist, wie schwierig es in Graubünden war, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Auch hier stellt die Agitation der calvinistischen Geistlichen einen Bruch mit den eingeübten Traditionen dar. Unter Ausnutzung ihres kollegialen Netzwerkes bedienten sie sich der Position des Dorfgeistlichen, um zentral verfasste Pamphlete von den Kanzeln aus verkünden zu lassen. Legitimatorische Basis bot das Narrativ des "Wächteramtes" des Geistlichen, das sie ins Feld führten, um zu begründen, warum sie sich als Geistliche in politische Angelegenheiten einmischten, was gemäß den Bestimmungen des Bundesbriefs von 1524 eigentlich untersagt war. Dass ausgerechnet Jörg Jenatsch, einer der Hauptverantwortlichen für die Eskalation der Gewalt in Graubünden später zum Freiheitshelden hochstilisiert wurde, mutet vor dem Hintergrund der Argumentation von Liniger besonders makaber an.
Gerade weil der Perspektivenwechsel, den diese Arbeit vollzieht, neue Einsichten ermöglicht, wirft er auch neue Fragen auf, die in der vorliegenden Studie nicht erschöpfend beantwortet werden. So bleibt etwa unklar, warum die konfessionelle Aufladung der gesellschaftlichen Spannungen erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts erfolgte. Die von Liniger als Erklärung vorgebrachte soziale Ausgrenzung der Geistlichen als Triebfeder für ihr Handeln und die Herausbildung einer sich benachteiligt fühlenden sozialen Mittelschicht sind Phänomene, die auch schon um 1550 wirksam waren. Auch die These, dass die bewaffneten Zusammenrottungen des "Fähnlilupf" der nächsten Generation potenzieller Führungsfiguren die Chance boten, sich auf der politischen Bühne die ersten Sporen zu verdienen, müsste mit einer größeren Zahl konkreter Beispiele belegt werden, um zu überzeugen. Mit diesen letztlich weiterführenden Fragestellungen soll dem Wert der Dissertation jedoch kein Abbruch getan werden. Im Gegenteil, sie zeigen, dass es Sandro Liniger gelungen ist, einem Themengebiet, das als intensiv untersucht galt, neue Erkenntnisse abzugewinnen, die zu weiteren Forschungen anregen. Insbesondere wäre zu wünschen, dass die ähnlich gelagerten Verhältnisse des Wallis mit demselben Interpretationsansatz der "Gesellschaft in der Zerstreuung" untersucht würden.
Anmerkungen:
[1] Volker Reinhardt: Die Geschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis heute, München 2013, 215.
[2] Peter Blickle: Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, 2 Bde, München 2000.
Peer Frieß