Benjamin Durst: Archive des Völkerrechts. Gedruckte Sammlungen europäischer Mächteverträge in der Frühen Neuzeit (= Colloquia Augustana; Bd. 34), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, 494 S., ISBN 978-3-11-047023-9, EUR 79,95
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Die "Archive des Völkerrechts", die Benjamin Durst in seiner Augsburger Dissertation untersucht, meinen nicht Institutionen wie etwa das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes, sondern, wie der Untertitel präzise angibt: "Gedruckte Sammlungen europäischer Mächteverträge in der Frühen Neuzeit". Auf diese Werke den Begriff 'Archiv' anzuwenden, folgt nicht der kulturwissenschaftlichen Mode, so ziemlich alles und jedes, das irgendwie mit der Vergangenheit zu tun hat oder aus ihr kommt, mit einem diffus-metaphorischen Archivbegriff zu bezeichnen. Vielmehr sind es diese Sammlungen selbst, die sich als Archive beschreiben (11). Sie tun dies in einem weniger metaphorischen, jedenfalls ungleich präziseren Sinne als die modernen Kulturwissenschaften, wenn sie im Blick auf Inhalte und Funktionen frühneuzeitlicher Archive sich mit diesen Institutionen gleichsetzen.
So wie die Funktion der Archive nicht (oder doch kaum) darin bestand, Geschichtsschreiber mit Quellen zu versorgen, sondern Verwaltungsleute, Diplomaten und Politiker mit dem notwendigen Herrschaftswissen (ein Napoleon zugeschriebener Spruch behauptete, für den Staat sei ein guter Archivar wichtiger als ein guter Artilleriegeneral), so ist das vorliegende Werk keine Quellenkunde, die dem Benutzer verriete, welchen chronologischen und geographischen Raum die jeweilige Vertragssammlung abdecke, wie vollständig sie das Material erfasse und wie zuverlässig ihre Texte seien. Vielmehr möchte es einen Beitrag "zu einer Medienkulturgeschichte der Mächtepolitik im frühneuzeitlichen Europa" leisten (12).
Die Einleitung erklärt diese Konzeption ohne in ein theoretisches l'art pour l'art zu verfallen. Der Autor kann sich an dieser Stelle nicht zuletzt deshalb kurzfassen, weil er weitere theoretische Überlegungen zu einzelnen Untersuchungsgegenständen oder -perspektiven geschickt dahin detachiert hat, wo sie tatsächlich zum Einsatz kommen. Das kommt dem Leser insofern zugute, als er diese Informationen erst dort erhält, wo er sie auch gebrauchen kann. Es ist zugleich ein Indiz dafür, dass es dem Autor mit der theoretischen Durchdringung seines Themas ernst ist.
Zwischen Einleitung und Fazit besteht die Untersuchung aus nur zwei Großkapiteln, die allerdings in sich sehr kleinteilig gegliedert sind. Das erste dieser Großkapitel behandelt die medialen Aspekte des Themas. Es beginnt mit einer Skizze des Kontextes als Spannungsfeld zwischen Arkanpolitik und Öffentlichkeit. Danach wird die untersuchte Quellengattung selbst in den Blick genommen. Dazu gehört die Vorstellung der hauptsächlichen Quellen, nämlich der zwischen ca. 1650 und 1750 gedruckten Vertragssammlungen, an die sich ein Unterkapitel über die Herausgeber dieser Sammlungen anschließt. Darauf folgen Fragen der Produktion, nämlich nach der Beschaffung und editorischen Bearbeitung der Quellen und nach den ökonomischen Aspekten der Publikation, schließlich Fragen der Distribution und Rezeption.
Das zweite Großkapitel fragt nach "Funktionen und Wirkungen" (177) der Vertragssammlungen. Es setzt eigentlich mit zwei Ansätzen ein, deren erster medien- und deren zweiter wissensgeschichtlich orientiert ist. Sie ergänzen sich auf anregende und fruchtbare Weise: Zunächst zeigt der Autor, dass die vier Effekte des Buchdrucks, die Elizabeth L. Eisenstein herausgearbeitet hat, "Dissemination, Konservierung, Reorganisation und Standardisierung" (177), sich auch bei seinem Untersuchungsgegenstand aufweisen lassen. Von den modernen Kategorien wechselt er dann zu frühneuzeitlichen, indem er fragt, unter welche Rubriken diese Werke in Bibliothekskatalogen der Zeit eingeordnet wurden. Er kann drei Rubriken feststellen: historia, jurisprudentia und politica. Auf diesen drei Wissensfeldern wird im Folgenden die Benutzung der Sammlungen untersucht. Daran schließt sich ein Unterkapitel zur polemisch-propagandistischen Nutzung dieser Werke an.
Der ehrgeizigste Teil dieses Großkapitels ist jedoch der Frage gewidmet, ob die frühneuzeitlichen Vertragssammlungen über die Systematik der Anordnung und Präsentation ihres Materials "[z]ur Genese des historiographischen Konzepts des Staatensystems" (331) beigetragen haben. Der Autor kann letztlich keine eindeutige Antwort geben. Dabei nimmt es für ihn ein, dass er nicht klüger sein will, als es die Quellen erlauben. Ohnehin war für den Rezensenten der Gebrauch anregender, den Durst hier von Paratexten wie Inhaltsverzeichnissen und Registern macht. Das "sapere ex indicibus" (im Stile der Zeit gesprochen) führt hier einmal nicht in die breite Sackgasse der Halbbildung, sondern zu aufschlussreichen Erkenntnissen.
Die Sekundärliteratur ist von Durst bemerkenswert breit und (wo der Rezensent dies beurteilen kann) bemerkenswert vollständig rezipiert, was sich im beachtlichen Umfang des Literaturverzeichnisses niederschlägt (392-464). Dagegen hat sich der Autor in der Quellenauswertung beschränkt: Die Vertragssammlungen stehen natürlich an erster Stelle, daneben werden Rezensionen und weitere einschlägige Artikel aus den gelehrten Zeitschriften herangezogen. Für die betreffenden Abschnitte im zweiten Großkapitel auch Literatur aus jenen Disziplinen, welche die Vertragssammlungen als Arbeitsinstrumente nutzten (29-30).
Was vollständig fehlt, sind ungedruckte Quellen. Sicherlich waren die Überlieferungschancen des relevanten Quellenmaterials nicht gut. In einzelnen Fällen hat sich aber bemerkenswert viel erhalten, etwa zu Thomas Rymer oder zu Gottfried Wilhelm Leibniz. Im Falle des Letztgenannten liegen (soweit sie erhalten sind) die Vorarbeiten seiner einschlägigen Publikationen und die Korrespondenz mit ihren zahllosen erhellenden Hinweisen in kritischer Edition vor, die das Material umfassend und bequem handhabbar erschließt. [1] Es wären natürlich immer nur exemplarische Einblicke gewesen, die sich so hätten gewinnen lassen. Sie hätten bei einzelnen Aspekten, etwa der Quellenakquisition, aber mehr Farbe und Anschauung in das prinzipiell richtig gezeichnete, aber etwas blasse und abstrakte Bild gebracht. Die Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten freilich, mit denen die Quellensammler konfrontiert waren, wird man nach der Lektüre einschlägiger Leibniz-Briefe stärker gewichten, als der Autor dies getan hat.
Benjamin Durst hat eine stringent und niemals redundant argumentierende Untersuchung vorgelegt, die auf einer breiten Basis von (gedruckten) Quellen und Sekundärliteratur ruhend sich auf überzeugende Weise neuere theoretische Zugänge zunutze macht. Die vorliegende Rezension konnte die vielen Einsichten und Anregungen, die das Werk vermittelt, kaum im Ansatz skizzieren. Davon kann sich der Leser durch eigene Lektüre überzeugen.
Anmerkung:
[1] In diesem Zusammenhang sei der Leser auf einschlägiges Quellenmaterial hingewiesen, dessen Edition wohl zu spät kam, um von Durst noch berücksichtigt zu werden: Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe IV. Politische Schriften, Bd. 8, Berlin 2015, S. 7-23. 31-85. 94-115. 653-662, enthält Materialien zur Entstehung von Leibniz' Codex juris gentium diplomaticus (1693) und v. a. des 1700 erschienenen Supplements, der Mantissa juris gentium diplomaticus.
Stephan Waldhoff