Franz Schultheis / Erwin Single / Raphaela Köfeler u.a.: Art Unlimited? Dynamics and Paradoxes of a Globalizing Art World, Bielefeld: transcript 2016, 262 S., Zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-8376-3296-5, EUR 29,99
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Der Band enthält auf 158 der insgesamt 255 Seiten sechzehn edierte Interviews mit Akteuren der chinesischen Kunstszene und ihres Kunstmarkts, die 2014 vornehmlich in Hongkong und Shanghai aktiv waren: sechs Galeristen, fünf Kuratoren, sowie Sammler, Künstler, Auktionatoren und Investoren, darunter insgesamt drei Frauen. Vorangestellt ist ein Eingangskapitel mit einer starken kultursoziologischen These: Der steigende Anteil der Erlöse für Werke chinesischer Künstler am Gesamtvolumen des globalen Kunstmarkts während der vergangenen 20 Jahre lässt den hegemonialen Status der mächtigen "westlichen" Monopolspieler im Kunstfeld unberührt. Im Gegenteil, die Erlöse sind Ausdruck einer nach wie vor westlichen "Landnahme", bei der ein Validierungs-Kartell aus Museumsdirektoren, Galeristen, Auktionatoren und Investoren die künstlerischen Ressourcen Chinas ausbeutet und gleichzeitig die distinktionsgierigen Eliten des Landes dazu erzieht, immer höhere Preise für die vom Kartell "konsekrierten" Werke zu zahlen.
Den Interviews nachgestellt sind zwei kurze Kapitel mit Zusammenfassungen von Befragungen bei ausstellenden Galeristen und bei Besuchern der Art Basel Hongkong 2014. Dem folgt ein Schlusskapitel, in dem, auch mit Zitaten aus den nicht edierten der insgesamt über 60 durchgeführten Interviews, argumentiert wird, am Beispiel Hongkongs lasse sich zeigen, dass und wie europäische Kunstmarktakteure die "aigis", also den Schutzschild des Marktsystems genützt haben, um eine neue Kunstszene zu schaffen, ohne ihre Validierungsmacht zu teilen. Visuell gegliedert wird der Text durch 30 meist doppelseitige Fotos, in der Mehrzahl aufgenommen vom Co-Autor Thomas Mazzurana, die zeigen, wie genau die abgebildeten Kunstorte ihren architektonischen Vorbildern in Europa und den USA entsprechen.
Während die Urheber der Fotos genannt werden, bleiben die Autoren der einzelnen Kapitel ungenannt. Nachdem in den Kapiteln zu den zwei Umfragen weder die Fragen noch die Antworten überraschen, und die kurzen Präsentationen der interviewten Personen in ihrer Vagheit PR-Texten ähneln, sind diese Texte vermutlich nicht Franz Schultheis, dem Hauptautor, zuzurechnen. Schultheis ist ein profilierter Vertreter der Bourdieuschen Lehre, er hat 2016 eine deutsche Fassung von Bourdieus kultursoziologischen Schriften herausgegeben. Entsprechend orthodox ist die Ausgangsthese des Bandes formuliert: machtvolle Akteure besitzen das Privileg der Konsekration, "Globalisierung" ist nur ein tarnendes Etikett für die Strategie des Machtkartells, auf dem chinesischen Territorium die eigene Hegemonie der Deutungsmacht auszudehnen. Die exorbitanten Preise für Werke chinesischer Maler waren ein erstes Signal, die Übernahme der Hongkong Art Fair und ihres Direktors, Magnus Renfew, durch den weltmarktführenden Veranstalter Art Basel, und die Verkaufserfolge der Art Basel Hongkong seit 2013 liefern weitere Anzeichen für diesen Prozess.
Hongkong eignet sich aufgrund seiner Geschichte besonders gut als Brückenkopf für das Eindringen "westlicher", meist britischer Unternehmen in einen Markt, auf dem zwar die Kaufkraft vorhanden ist, die Nachfrager nach Kunstobjekten aber erst noch erzogen werden müssen. Es ist also verdienstvoll, die Beobachtungen von Akteuren in den Zentren Hongkong und Shanghai zu erfragen und aufzuzeichnen. In den transkribierten Interviews werden Fragen zur Geschichte und Zukunft der jeweiligen Kunstszene und ihren Akteuren gestellt. Die Texte sind eher weitschweifige Gesprächsprotokolle, die einen unmittelbaren Zugang zur eingesammelten Information ermöglichen, auch wenn zu den Kriterien der Interviewauswahl und zu deren editorischer Bearbeitung nichts angemerkt wird.
Aus den Antworten der Befragten ergibt sich ein Bild, das die These von der westlichen Landnahme nicht stützt. In den traditionellen chinesischen Kunstszenen ist die Figur des Sammlers eine bekannte Erscheinung. Während früher Bronzen oder Tuschemalereien begehrt waren, richtete sich mit dem steigenden Reichtum einer neuen Unternehmerschicht das Interesse der Sammler auch auf zeitgenössische Werke der bildenden Kunst. Weil im China der 1990er-Jahre die notwendigen Institutionen eines Kunstmarkts fehlten, waren Auktionshäuser oft die einzigen Verkaufsplattformen. Inzwischen haben internationale und lokale Galerien Fuß gefasst. Der Bau großer Museen ist im Gang, frühe Sammlungen werden dort "konsekriert". Gleichzeitig nehmen in den urbanen Kunstszenen selbstorganisierte Aktivitäten in Kunsträumen und Kunsthallen zu.
Ein Beispiel dieser Entwicklung ist die Karriere des in Deutschland ausgebildeten Kurators Tobias Berger: 2005 kam er nach Hongkong und lieferte der ersten unabhängigen Kooperative Para Site das rhetorische Vokabular; 2013 leitete er als Kurator den Aufbau der Sammlung des Museums M+, dem der Schweizer Sammler Uli Sigg soeben seine Bestände zeitgenössischer chinesischer Malerei geschenkt hatte; 2015 - das wird im Buch nicht erwähnt - wechselte er zu Tai Kwun: Centre for Heritage and Art, einem gewaltigen Kunstprojekt, das vom Hongkong Jockey Club, der ältesten Gemeinwohlorganisation der Stadt, gefördert wird. Als er in seinem Interview nach der treibenden Kraft der raschen Entwicklung gefragt wird, nennt Berger den Wettbewerb Hongkongs mit Singapur und Shanghai um die Führungsrolle als creative city im asiatischen Raum. Berger zufolge fanden in Hongkongs Kunstszene während eines Jahrzehnts Veränderungen statt, die in Europa ein Jahrhundert gedauert haben. Etablierte kommerzielle Akteure, etwa die Gagosian Gallery oder die White Cube Gallery, sieht er als eine Begleiterscheinung, "duty-free shops", die eine entsprechende Klientel bedienen.
Selbst Schultheis muss konstatieren, dass sich in Hongkong eine "unbelievable number of young aspiring artists" (243) niedergelassen hat. Laut William Lim, einem Sammler, der sich auf das Kunstgeschehen in Hongkong konzentriert, verwenden die lokalen Künstler Medien für in-situ Arbeiten, die weniger marktgängig, dafür aber "more subtle" (91) sind als die Ölgemälde der "mainland contemporary artists" (89). Durchgängig wird darauf hingewiesen, dass "education" noch eine Schwachstelle der entstehenden Kunstszene ist, sowohl bei der künstlerischen Ausbildung als auch bei der ästhetischen Erfahrung des Kunstpublikums und der Sammler. Schließlich gibt es Anzeichen dafür, dass die rein privatwirtschaftliche Praxis der Finanzierung bald stärker ergänzt wird durch philanthropische und sogar staatliche Förderung: in China hat das politische Machtzentrum entdeckt, dass zeitgenössische Kunst zu den wachstumsstarken creative industries gehört, und hat damit begonnen, selbständig agierende Stiftungen mit Finanzmitteln auszustatten (213).
Wo bleiben in diesem Narrativ die westlichen Konquistadoren? Natürlich sind die globalen Auktionshäuser und Galerien präsent, aber ihre Transaktionen markieren eher ein Zwischenstadium auf dem Weg zu einer eigenständigen, entwicklungsfähigen Kunstszene. Die "emancipated artists" (255), die Schultheis einfordert, gibt es längst. Sicherlich operieren bislang in China keine "globally recognized sites for the consecration of the production and distribution of art" (248). Institutionen der Validierung können eben ihre Glaubwürdigkeit nur langsam aufbauen. Bei der Geschwindigkeit der Entwicklung dürfte allerdings das Fehlen entsprechender "sites" ein Mangel sein, der schneller behoben sein wird als es den gegenwärtigen Validierungsmachthabern lieb sein kann. Davon abgesehen gibt es gute Gründe zu vermuten, dass der Prozess der Wertung künstlerischer Qualität sowieso weitaus vielschichtiger und unter den Spielerinnen und Spielern verstreuter ist, als das im Bourdieuschen Denkraster vorgesehen ist. Schultheis nimmt diese Unstimmigkeiten durchaus wahr, relativiert sie aber als "Paradoxa", die seine Interpretation im Kern unangetastet lassen.
Dank der ausführlichen Interviews ermöglicht das Buch lesenswerte Einblicke in die Situation der Kunstszenen und -märkte von Hongkong und Shanghai im Jahr 2014. Gleichzeitig bietet das Buch den in den Sozialwissenschaften seltenen Fall einer Argumentation, bei der das von den Autoren präsentierte Evidenzmaterial die eigene These widerlegt.
Michael Hutter