Rezension über:

Katja Happe: Viele falsche Hoffnungen. Judenverfolgung in den Niederlanden 1940-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 365 S., ISBN 978-3-506-78424-7, EUR 49,90
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Rezension von:
Rick Tazelaar
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Annemone Christians im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Rick Tazelaar: Rezension von: Katja Happe: Viele falsche Hoffnungen. Judenverfolgung in den Niederlanden 1940-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 4 [15.04.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/04/29964.html


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Katja Happe: Viele falsche Hoffnungen

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Eigentlich spielten die Niederlande eine verhältnismäßig kleine Rolle in den Plänen Hitlers. Dennoch verschleppten die nationalsozialistischen Funktionsträger während der Besatzungszeit von 1940 bis 1945 107.000 Juden aus den Niederlanden in die Konzentrations- und Vernichtungslager. 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung fielen den Deportationen zum Opfer. Bei dieser erschreckend hohen Zahl drängt sich die Frage auf, warum gerade in den Niederlanden so viele Juden ermordet wurden. Katja Happe, seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg, beantwortet diese komplexe Fragestellung einleuchtend in ihrem im Jahr 2017 erschienenen Buch.

Happe kann umfangreiche Forschungserfahrungen zu dieser Thematik vorweisen. Sie war im Rahmen des 16-bändigen Editionsprojekts "Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945" (VEJ) für die Auswahl und Kommentierung der Quellen zur Judenverfolgung in den Niederlanden zuständig. Jene Quellen bilden nun die Hauptgrundlage für ihr jetzt erschienenes Buch.

Die chronologisch aufgebaute Studie gliedert sich in neun Kapitel und analysiert detailreich die Verfolgung der Juden in den Niederlanden vom Anfang bis zum Ende der Besatzungszeit. Grundlegend für das Konzept des Buchs sei die Tatsache gewesen, so schreibt Happe, dass außerhalb des niederländischen Sprachraums wenig über die Judenverfolgung in den Niederlanden bekannt ist. Das ist ein durchaus legitimer Grund ein Buch zu schreiben, aber entsteht daraus auch eine innovative Studie, die zu neuen relevanten Einsichten gelangt? Die Phasen der Judenverfolgung in den Niederlanden sind in der niederländisch- (und englisch-) sprachigen Fachwelt hinlänglich bekannt: Agierte die Besatzungsmacht im Jahre 1940 noch zurückhaltend, erfolgte 1941 bereits eine flächendeckend organisierte Ausbeutung, Entrechtung und Isolierung der jüdischen Bevölkerung. Die jeweiligen Besatzungsbehörden vollzogen ab 1942 die systematischen und umfangreichen Deportationen nach Auschwitz und in andere Lager. [1] Auch die Frage nach der hohen Zahl deportierter Juden wurde in der geschichtswissenschaftlichen Literatur bereits mehrfach aufgegriffen. [2]

Worin liegt also das Potential von Happes Arbeit? Sie stellt in ihrer facettenreichen Studie nicht allein die Judenverfolgung in den Niederlanden für ein breites deutsches Publikum verständlich dar, sondern bietet zugleich innovative Perspektiven auf die umfangreich behandelte Thematik an. Wie der Titel vermuten lässt, bildet die Perspektive der Juden in den Niederlanden die Grundlage des Buchs. Happe legt sich jedoch nicht auf eine Sichtweise fest. So beleuchtet sie beispielsweise ebenfalls die Blickwinkel der nationalsozialistischen Funktionsträger und der niederländischen Exilregierung. Dabei macht sie kunstvoll die Hauptlinien ihrer Geschichte exemplarisch an konkret handelnden und betroffenen Personen fest.

Die hohe Zahl von deportierten Juden ist für Happe nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen. Sie argumentiert, dass es sich um ein komplexes und dynamisches Netzwerk zusammenhängender untrennbarer Erklärungsfaktoren gehandelt habe. Ein wichtiges Element in diesem Netzwerk seien die "falschen Hoffnungen" vieler Juden gewesen, die zu einem zögernden Verhalten und damit dazu geführt hätten, dass viele Juden den antijüdischen Maßnahmen in den Niederlanden nicht mehr entkommen konnten. Die Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht so schlimm werden würde, passte sich dabei den sich ständig verändernden Umständen an. Als zweites Element arbeitet Happe heraus, dass das Besatzungsregime den Juden "trügerische Sicherheitsvorstellungen" vorgespielt habe, während es zugleich verdeckt die Zielsetzungen im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage" mit großen Schritten umsetzte (38-53).

Mindestens so wichtig wie die Frage nach dem Ausmaß der Judenverfolgung in den Niederlanden ist für Happe jene nach dem Einfluss von Institutionen und Ereignissen außerhalb der Niederlande auf die Judenverfolgung. Bisher wurden historische Ereignisse meist als eine Art niederländische Geschichte mit zeitlichen (1940-1945) und geografischen (Niederlande) Grenzen verfasst. Happe erweitert diese Perspektive jedoch integrativ, indem sie die niederländische Situation aus einer internationalen Perspektive über die Zäsuren von 1940 und 1945 hinaus beleuchtet. Dabei erweitert sie den aktuellen Forschungsstand sinnvoll mit bisher in Deutschland ungenutzten primären Quellen. So erfährt man nicht nur, was die Juden in den Niederlanden dachten, sondern erstmals auch ausführlich, was die internationalen jüdischen Hilfsorganisationen und die niederländische Exilregierung von der Verfolgung wussten und dagegen zu unternehmen versuchten. Dabei ist es für die Besatzungszeit rückwirkend besonders interessant festzustellen, dass die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland bereits 1938 durch die niederländische Regierung zu "unerwünschten Elementen" erklärt wurden (22). Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass das Schicksal der jüdischen Bevölkerung für die Entscheidungen der niederländischen Exilregierung keine zentrale Rolle spielte.

Ausgehend von dieser einleuchtenden Argumentationslinie mag es den Leser überraschen, dass die Autorin Raul Hilbergs vielfach diskutierte Kategorisierung von "Opfern, Tätern und Zuschauern" auf ihre Studie projiziert (12f.). Diese Kategorisierung ist zwar noch stets nützlich, weist dennoch bedeutsame Begrenzungen auf. Dies zeigt sich besonders in Happes Darstellung der leitenden Personen des sogenannten Jüdischen Rates, die eine höchst ambivalente Rolle in der Judenverfolgung spielten. Hier hätte die Autorin Hilbergs Kategorisierung ausführlicher kritisch diskutieren können, denn ihre Studie ist wesentlich nuancierter.

Diese Überlegungen schmälern den positiven Gesamteindruck des Buchs aber nicht. Viele falsche Hoffnungen ist eine gelungene Studie, die die zentralen Primärquellen und Forschungsperspektiven der letzten Jahrzehnte auf innovative Weise verknüpft und erweitert. Es ist vor diesem Hintergrund erfreulich, dass in Kürze eine niederländische Übersetzung des Buchs erscheinen soll. [3]


Anmerkungen:

[1] Im niederländischen Sprachraum zu diesem Thema einschlägig: Jacques Presser: Ondergang. De vervolging en verdelging van het Nederlandse jodendom 1940-1945, Den Haag 1965.

[2] Dazu u.a. Pim Griffioen / Ron Zeller: Jodenvervolging in Nederland, Frankrijk en Belgie, 1940-1945. Overeenkomsten, verschillen, oorzaken, Amsterdam 2011 und Bob Moore: Warum fielen dem Holocaust so viele niederländische Juden zum Opfer? Ein Erklärungsversuch, in: Nationalsozialistische Herrschaft und Besatzungszeit. Historische Erfahrung und Verarbeitung aus niederländischer und deutscher Sicht, hg. von Norbert Fasse / J.Th.M. Houwink ten Cate / Horst Lademacher, Münster 2000, 191-210.

[3] Die Erscheinung einer niederländischen Übersetzung unter dem Titel "Veel false hoop. De Jodenvervolging in Nederland 1940-1945" ist beim niederländischen Verlag Atlas Contact für April 2018 angekündigt.

Rick Tazelaar