Klaus Bachmann / Jens Gieseke (eds.): The Silent Majority in Communist and Post-Communist States. Opinion Polling in Eastern and South-Eastern Europe, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2016, 238 S., ISBN 978-3-631-66668-5, EUR 59,95
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Die Meinungsforschung ist in den letzten Jahren in die Kritik geraten. Umfrageergebnisse im Vorfeld von Wahlen und Referenden haben sich zunehmend als unzuverlässig herausgestellt - die Überraschung angesichts der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA und der Zustimmung der Briten zum Brexit sind nur die bekanntesten Beispiele. Wenn zuverlässige Prognosen selbst in pluralistischen Demokratien so schwierig sind, welchen Wert können dann Umfrageergebnisse aus kommunistischen Diktaturen als historische Quelle heute haben? Dieser Frage sind der Politikwissenschaftler Klaus Bachmann und der Historiker Jens Gieseke in dem vorzustellenden Band nachgegangen.
In ihrer instruktiven Einleitung knüpfen die Herausgeber an die Debatte über die Brauchbarkeit der Ergebnisse (westlicher) sozialwissenschaftlicher Untersuchungen als Quellen für die historische Forschung an. Noch mehr als für diese gelte für die Meinungsforschung in sozialistischen Staaten, dass eine gründliche Rekonstruktion der Bedingungen und Einstellungen ihrer Akteure sowie ihrer Auftraggeber notwendig sei, um die Ergebnisse zu verstehen und nutzen zu können. Vor diesem Hintergrund beantworten sie die zentrale Frage nach dem Wert der Umfrageergebnisse im Vergleich mit solchen aus freiheitlich-pluralistischen Staaten differenziert: Hätten die Umfragen den Zweck gehabt, durch die Ermittlung der Bevölkerungsstimmung etwaigen Unruhen oder Aufständen zuvorzukommen, müssten die Auftraggeber an realistischen Ergebnissen interessiert gewesen sein. Im Rahmen von Machtkämpfen innerhalb der Herrschaftselite hätte es dagegen ein Interesse geben können, Ergebnisse zu manipulieren, um den politischen Gegner zu diskreditieren. Dies gelte aber auch in Demokratien, weshalb in diesen Fällen der Unterschied zu Autokratien ein relativer, kein absoluter sei: "Polls can - but need not - be manipulated in both systems, and under both conditions they can be reliable." (13f.) Der entscheidende Unterschied bestünde darin, dass Umfrageergebnisse in demokratischen Staaten in der Regel veröffentlicht würden, während sie in Diktaturen exklusives Herrschaftswissen seien. Das bedeute im Übrigen auch, dass die Befragten im letzteren Fall ihre Antworten nicht an den Mainstream anpassen konnten und die viel zitierte "Schweigespirale" (Elisabeth Noelle-Neumann) demnach nicht zum Tragen kommt.
Im ersten Teil des Bandes wird jeweils die Gesamtheit der Meinungsforschung in einem Land in den Blick genommen, während der zweite Teil Fallstudien zu spezifischen Themen enthält. Die Beiträge des ersten Teils befassen sich mit Tschechien in der frühen Nachkriegszeit, der DDR, Jugoslawien bzw. Serbien von den 1960er Jahren bis zur Jahrtausendwende sowie mit Weißrussland nach 1991. Ähnlichen Charakters, aber aus nicht nachvollziehbaren Gründen in den zweiten Teil verbannt, sind ein Aufsatz zu zwei Umfrageinstituten in Polen sowie ein Bericht des ehemaligen Mitarbeiters am Institut für Meinungsforschung beim Zentralkomitee der SED Hans Erxleben. Diese Beiträge liefern manch interessanten Einblick "hinter die Kulissen", muten aber zum Teil hagiografisch an. Die Autoren, zur Hälfte ehemalige oder noch tätige Mitarbeiter der Forschungsinstitute bzw. ihrer Nachfolgeeinrichtungen, betonen immer wieder die hohen professionellen Standards, die internationale Vernetzung der Institute und listen Mitarbeiter und Publikationen ermüdend ausführlich auf. Am aufschlussreichsten ist hier der Artikel von Leg Manaev, dem Gründer und Leiter des Independent Institute of Socio-Economic and Political Studies in Weißrussland, das aufgrund politischen Drucks schließen musste und 2005 in Litauen neu gegründet wurde. Manaev zeigt zum einen, wie erstaunlich lange sein Institut trotz der seit 1994 zunehmend autoritären Regierung unter Aljaksandr Lukaschenka noch Meinungsumfragen durchführen und veröffentlichen konnte. Zum anderen macht er deutlich, dass sich unabhängige Demoskopie nicht nur von Seiten der Regierung, sondern auch von Seiten der Opposition Druck ausgesetzt sieht.
Etwas aus dem Rahmen des ersten Teils fällt der Beitrag von Jens Gieseke zur DDR, der drei Quellengruppen (Stellvertreterbefragungen des westdeutschen Instituts Infratest, Ergebnisse der DDR-Meinungsforschung, Stimmungsberichte des Ministeriums für Staatsicherheit) zunächst quellenkritisch reflektiert und dann synoptisch zusammenführt. Überzeugend argumentiert Gieseke, dass durch die Synopse die spezifischen Defizite der einzelnen Befunde zumindest zum Teil kompensiert werden und es so möglich wird, ein relativ dichtes und differenziertes Bild von der Bevölkerungsstimmung im DDR-Sozialismus zu zeichnen. Von den "Fallstudien" des zweiten Teils erreichen nur wenige dieses hohe methodische und analytische Niveau. Hier ragt der Aufsatz von Piotr Tadeusz Kwiatkowski heraus, der die Zeit des Kriegsrechts in Polen im Spiegel von Meinungsumfragen offizieller Institutionen einerseits und von Untergrundorganisationen andererseits untersucht. Dass deren Ergebnisse stark voneinander abweichen, überrascht nicht, denn die Validität von Meinungsumfragen ist, wie Kwiatkowski treffend darlegt, eng an das Vorhandensein demokratischer Verhältnisse gebunden: "Only in conditions of political freedom is it possible to correctly select the research sample and gather the opinions of citizens who feel able to boldly voice their views. Democracy also allows for the appropriate interpretation of research findings as well as public debate that reduces the possibility of manipulation" (172). Welche Erkenntnisse sich trotzdem aus den historischen Befunden ableiten lassen, zeigt sein Aufsatz eindrücklich.
Den übrigen Beiträgen mangelt es zum Teil an gründlicher Quellenkritik, oder sie enthalten einleuchtende quellenkritische Überlegungen, die dann aber bei der Interpretation der Zahlen keine Rolle spielen. Letzteres gilt etwa für den Artikel von Michael Meyen, der ausführlich auf die - trotz zunehmender Professionalisierung in den 1970er Jahren - methodischen Defizite der Studien zur Mediennutzung in der DDR eingeht: Die Befragungen waren nicht repräsentativ, die Fragebögen mussten vom Parteiapparat abgesegnet werden (weshalb beispielsweise nach westlichen Sendern nicht direkt gefragt werden konnte) und die "Ehrlichkeit" der Antworten war angesichts der Furcht der Befragten vor der Geheimpolizei zweifelhaft. Die Ergebnisse interpretiert er trotzdem so wie sie vorliegen. Ohne weitere Begründung nimmt er überdies einen prinzipiell gleich starken Fernsehkonsum in West und Ost an. Von dieser Prämisse ausgehend folgert er aus den hohen Einschaltquoten für Samstagabend-Shows und Krimis des DDR-Fernsehens, dass an diesen Abenden "only GDR's hardcore enemies switched to the West" (207), womit er unreflektiert die Kategorien des DDR-Herrschaftsapparates übernimmt. Hinzu kommen weder beweis- noch widerlegbare Behauptungen wie: "[Q]uite frequently the GDR entertainment programs were better than the competition from the West." (ebd.).
So bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Die Einleitung und einige Aufsätze zeigen die Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung der Ergebnisse der Demoskopie aus autoritären Staaten differenziert auf. Andere Beiträge werden Skeptiker der Verwendung solcher Quellen für die heutige Forschung eher noch bestätigen. Trotzdem bleibt zu hoffen, dass die Diskussion, ob die Befunde älterer sozialwissenschaftlicher Untersuchungen mehr über die Vorstellungen, Konzepte und Methoden der damaligen Forscher aussagen als über ihre Untersuchungsgegenstände, weniger polarisiert geführt wird. Selbstverständlich sagen sie über Beides etwas aus, in welchem Maße ist für jeden Einzelfall zu prüfen - und zwar mithilfe des Handwerkzeugs des Historikers: der Quellenkritik.
Henrik Bispinck