Arundhati Roy: The Ministry of Utmost Happiness, London: Hamish Hamilton 2017, 464 S., ISBN 978-0-241-30397-9, GBP 10,99
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Michael Borgolte (Hg.): Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam vor der Moderne. Auf der Suche nach ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in religiösen Grundlagen, praktischen Zwecken und historischen Transformationen, Berlin: Akademie Verlag 2005
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Arundhati Roy ist seit ihrem vor 20 Jahren erschienenen Debütroman The God of Small Things Indiens berühmteste Schriftstellerin und seit Jahren Sprachrohr der weltweiten Antiglobalisierungsbewegung. Nachdem Roys Erstlingswerk monatelang die internationalen Bestsellerlisten angeführt hatte und mehr als sechs Millionen mal verkauft worden war, wandte sich der indische Neuling vorerst von der Prosa ab und entwickelte sich zur führenden Kritikerin der US-Außenpolitik, der Kriege im Nahen Osten und des Aufstiegs der Hindu-Nationalisten in ihrem Heimatland. Im Jahr 2010 entging Roy in ihrer Heimat nur knapp einer langjährigen Verhaftung, nachdem sie sich öffentlich für die Unabhängigkeit Kaschmirs ausgesprochen und damit eine feste Säule der indischen Außenpolitik kritisiert hatte. Höhepunkte ihrer allesamt sehr zu empfehlenden Sachbücher sind, nach der Meinung des Rezensenten, The End of Imagination (1998), Listening to Grasshoppers: Field Notes on Democracy (2010) und Capitalism: A Ghost Story (2014).
Vor zwei Jahren machte Arundhati Roy erneut internationale Schlagzeilen, als sie Edward Snowden in Russland besuchte. Hier wurde sie vom Pentagon-Papers Whistleblower Daniel Ellsberg und dem Schauspieler John Cusack begleitet. Später veröffentlichte sie zusammen mit Cusack ihre Gespräche mit Snowden im Essayband Things That Can and Cannot Be Said (2014).
Nun, 20 Jahre nach der Veröffentlichung von The God of Small Things, ist Arundhati Roy mit ihrem zweiten Roman The Ministry of Utmost Happiness wieder zur Prosa zurückgekehrt. Auf Deutsch ist das Werk nun unter dem etwas unglücklich lautenden Titel "Das Ministerium des äußersten Glücks" erschienen. Auch dieser Roman wird - meines Erachtens völlig zu Recht - überschwänglich gelobt. In der Washington Post schätzt es ein Rezensent ein als "[...] a book always threatening to surge beyond its covers. Truly, this is a remarkable creation, a story both intimate and international, swelling with comedy and outrage, a tale that cradles the world's most fragile people even while it assaults the Subcontinent's most brutal villains." [1] Und die indische Literaturkritikerin Nilanjana Roy feiert den Roman in ihrer Besprechung als "[...] an elegy for a bulldozed world." [2]
Roys Werk beginnt mit der Protagonistin Anjum, die aus Gründen, die sich erst im Laufe der Geschichte entfalten, auf einem Friedhof Zuflucht sucht. Sie selbst beschreibt ihre Aufgabe in dieser Welt als 'mehfil' (Hindi: mahaphil), in der ursprünglichen Bedeutung eine Tanzaufführung mit langer Tradition, die sich an ein nur kleines und sehr ausgewähltes Publikum richtet. Im Kontrast zu dieser rein elitären Veranstaltung sieht Anjum ihre Funktion des mehfil jedoch vielmehr als multikulturelles und multiethnisches Sammelbecken für alle, die aus der florierenden indischen Gesellschaft ausgestoßen wurden. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich Anjums Friedhofshaus im Laufe des Romans zu einem säkularen und gleichzeitig multireligiösen Zufluchtsort, der durch die schiere Willenskraft der Teilnehmenden vor den Zugriffen der turbulenten Außenwelt geschützt wird.
Diese durchgehend bedrohliche Umgebung beschreibt Mitbürger wie Anjum als "Hijra", welches sowohl als Hermaphrodit oder Eunuch wie auch als 'drittes Geschlecht' übersetzt werden kann. Anjum selbst hat männliche und weibliche Geschlechtsorgane, bis sie sich schließlich in einem Bordell operieren lässt. Seit ihrer Pubertät hat Anjum im alten Delhi gelebt, genauer gesagt im Khwabgah-Viertel, welches die Bewohner liebevoll 'schlafendes Viertel' oder auch 'Palast der Träume' nennen. Für Anjum ist dies ein Ort der Befreiung und des Selbstausdrucks, hier lebte sie mit anderen Hijras zusammen und bildete mit ihnen so etwas wie eine Familie. [3]
Es kommt zum Wendepunkt der Erzählung: Bei einem Besuch eines Gujarati-Schreins wird Anjum Zeuge eines Massakers an Hindu-Pilgern und den unmittelbar daran anschließenden Vergeltungsmaßnahmen durch die Regierung, welche Muslime als die sofortigen Täter ausmacht, obwohl die Täter nicht klar als Muslime identifiziert werden konnten. Hier spielt Roy gekonnt an die Ereignisse aus dem Jahr 2002 an, als in Gujarat 59 Hindu-Pilger, die aus den Ruinen der Babri-Moschee zurückkehrten, die 1992 von radikalen Hindus zerstört wurde, durch ein Feuer in ihrem Zug ums Leben kamen. Hier mögen die Schuldigen ebenfalls Muslime gewesen sein, die das Feuer im Zug legten, aber auch dies wurde nie ganz geklärt; dennoch machte man die gesamte muslimische Gemeinde Gujarats als Täter aus und ermordete in den darauffolgenden Pogromen mindestens 2.000 muslimische Zivilisten. So wie es Roy in ihren Sachbüchern nach dem Gujarati Massaker 2002 immer wieder explizit tat, so beschuldigt Roy auch diesmal, allerdings eher literarisch diskret, den damaligen Minister - und jetzigen Premierminister Narendra Modi -, diese Gewaltexzesse nicht nur nicht verhindert, sondern direkt unterstützt zu haben.
Im weiteren Verlauf der Handlung führt die Autorin den Leser aus den Toren Delhis nach Kaschmir, wo Indien und Pakistan seit Jahrzehnten das vielleicht schönste Tal der Welt zur Hölle auf Erden und deren Bewohner zu Flüchtlingen, Jihadis, Märtyrern, Informanten und Opfern machen. Als langjährige Kämpferin für die Kaschmiri-Unabhängigkeit ist sich Roy über die Komplexität dieses Konfliktes völlig im Klaren. Hierzu die Autorin in einem Interview für Democracy Now:
"India and Pakistan have been fighting over it, and it's become a toxic situation, a flashpoint. The Indian Muslim population is, of course, held hostage to all the debates between India and Pakistan in Kashmir. And we're talking about two nuclear powers. So, you're talking about a place with - proliferating with graveyards. In the '90s, the struggle turned militant. The army was fighting militants. Now the population has turned militant. Recently, the army general said that he wished the people who are throwing stones were actually firing at them, so he could do what he liked with them. Just last month, they tied a Kashmiri civilian to a tank, used him as a human shield, and the officer who did that was rewarded, was honored, and many people in India applauded it. And that's by no means the worst thing that has happened there." [4]
Kaum ein anderes Umfeld hätte sich so gut dazu geeignet, die derzeitige Zerrissenheit der indischen Gesellschaft besser zu erklären als Kaschmir. Und so fungiert es in dem Roman primär als Spiegel der aktuellen Ereignisse und der gesellschaftlich äußerst gefährlichen Situation in Indien. Seit 1925 betont die RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh, die radikal hinduistische Kaderorganisation der regierenden BJP), zu der Modi und viele weitere Ministerpräsidenten und Minister gehören, dass man Indien zu einer rein hinduistischen Nation erklären wolle, so wie sich Pakistan als islamische Republik bezeichne. Obwohl sich das indische Prinzip des Säkularismus - Achtung des anderen ungeachtet seiner religiösen Herkunft - in der Vergangenheit millionenfach in der nachbarlichen Gemeinschaft der Menschen bewährt hat.
Und so sind die machthabenden Charaktere in Roys Roman als auch in Indiens Realität in der Lage, die Verfassung ändern zu können. Denn sie wollen die Geschichte Indiens, ihre Lehr- und Schulbücher umschreiben. Politiker, Journalisten, Intellektuelle, einflussreiche Großindustrielle und Finanziers, welche die Vision der RSS und Modis teilen, dass Indien eine rein hinduistische Nation sein müsse, erhalten seit Jahren die wichtigsten Positionen innerhalb des indischen Verwaltungsapparates und der Politik. Jeden Tag berichten die Medien über neue Lynchmorde, über Tötungen und über Grausamkeiten zahlreicher, oft schwerbewaffneter sogenannter Hindu-Bürgerwehren gegenüber den indischen Minderheiten. Letztere leben seit der Machtergreifung Modis in Schrecken, wurden an das letzte Ende der Nahrungskette geschoben, werden in den Medien und der Justiz nicht vertreten und sind in der Bürokratie völlig unterrepräsentiert.
Arundhati Roys neuer Roman erzählt eindrucksvoll über all jene Inder, welche nicht mehr in dieses Gesellschaftsraster passen wollen. Sie sind die Helden der Autorin. Denn anstatt zu resignieren und vor der immer schärferen Ausgrenzung zu kapitulieren, schaffen sie sich vielmehr eine kleine und starke Gemeinschaft. Hier entsteht eine neue Form von Solidarität, die dem Modi-Indien mit jeder neuen Schreckensmeldung täglich ein bisschen mehr verloren geht. Es ist eine Solidarität fern jeglicher stilisierter Memoranda und akademischer Diskurse, sondern eine rein menschliche, welche auf allen unorthodoxen Arten der Zuneigung, des Mitgefühl und der Liebe basiert. Arundhati Roys neues Meisterwerk liefert auf höchstem literarischen Niveau einen tiefen Einblick in die aktuelle Umbruchsphase Indiens und ist daher unbedingt zu empfehlen.
Anmerkungen:
[1] Ron Charles: We waited 20 years for her follow-up to 'The God of Small Things.' It was worth it, in: The Washington Post, 30. Mai 2017.
[2] Nilanjana Roy: Arundhati Roy's second novel is a powerful elegy for a bulldozed world, in: Business Standard, 30. Mai 2017.
[3] Ein aussagekräftiges Video über das Fathepur-Sikri Viertel und seine Funktion im Roman liefert Taruni Kumar: https://www.thequint.com/videos/arundhati-roy-ministry-of-utmost-happiness-in-old-delhi.
[4] Siehe: Full Extended Interview: Arundhati Roy on Democracy Now, 20. Juni 2017, https://www.democracynow.org/2017/6/20/full_extended_interview_arundhati_roy_on.
Tilmann Kulke