Jürgen Herres: Marx und Engels. Porträt einer intellektuellen Freundschaft, Stuttgart: Reclam 2018, 314 S., ISBN 978-3-15-011151-2, EUR 28,00
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Der Titel trifft den Inhalt des Buches nur zum Teil. Es ist nicht nur ein Portrait der intellektuellen Freundschaft zwischen Marx und Engels. Der Leser erfährt vieles mehr. So werden auch die Umfelder eingehend beschrieben, in denen die beiden politisch gewirkt haben, z.B. am Anfang ihres Wirkens die anderen Akteure der "Neuen Rheinischen Zeitung" oder dann später die Auseinandersetzungen in der "Internationalen". Nicht nur die dominierende Rolle der beiden wird dargestellt, die nie unumstritten war, sondern auch andere Personen werden ausführlich gewürdigt, wie sie teils zusammen mit Marx und Engels oder gegen sie agierten, mitunter auch ohne Bezug zu den beiden. Damit liefert das Buch wichtige Bausteine zur Geschichte sozialistischer Organisationen, ohne allerdings eine Geschichte zu sein - Bausteine eben, die man allerdings so ausführlich nicht erwartet hätte. Sehr schnell wird dabei dem Leser klar, dass die beiden sehr streitbar waren, es oft um Macht und persönlichen Einfluss ging und häufig weniger das politische Engagement, sondern der "richtige" theoretische Standpunkt im Vordergrund der Auseinandersetzungen stand. Oftmals setzte es auch herabsetzende Polemik: Marx war sich beispielsweise nicht zu schade, Lassalle mit den übelsten antisemitischen Ausdrücken zu belegen (z.B. "jüdischer Nigger", 251), was ihn jedoch nicht hinderte, sich an anderer Stelle wertschätzend über ihn zu äußern. Man erfährt so einiges über die von Widersprüchen nicht freien Charakterprofile der beiden, so auch über das nicht sorgenfreie und recht unregelmäßige Leben des Dauerschuldners Marx, den nur Engels finanziell über Wasser hielt, der selber wiederum zwar widerwillig, jedoch gewissenhaft, diszipliniert und mit Erfolg Unternehmer war. So manches wenig bekannte Detail wird ausgebreitet, z.B. dass Marx sich von dem Erscheinen des 1. Bandes des Kapitals erhoffte, durch das Honorar seine finanziellen Kalamitäten zu beenden, was sich mangels Absatz als Illusion erwies. All diese Einzelheiten werden ausgeführt, ohne dass das Buch den Anspruch hätte, eine vollumfängliche Biographie, bzw. Doppelbiographie zu sein. Also auch hier wieder nur "Bausteine".
Schwerpunkt bei allen beträchtlichen Weiterungen sind die Beziehungen zwischen Marx und Engels, in geringerem Umfang die auf der persönlich freundschaftlichen (und finanziellen!) Ebene, dagegen in sehr starkem Umfang die Beziehungen auf der Ebene des Zusammenwirkens bei der Entwicklung von Theorien. Und so trägt das Buch auch den bezeichnenden Untertitel "Portrait einer intellektuellen Freundschaft". Mit Bedacht hat der Autor wohl das Wort "intellektuell" gewählt und tritt schon damit der weit verbreiteten Ansicht entgegen, Marx sei der theoretische Kopf, Engels nur der Vereinfacher und Vulgarisierer eines Marxismus', von dem Marx gesagt hat: "Je ne suis pas marxiste" (Kapitelüberschrift).
Herres zeigt einerseits, dass Marx und Engels eigenständige Persönlichkeiten waren, aber auch andererseits die Verwobenheit ihrer Gedankengänge, die wiederum auch Marx gedanklich befruchtete, was vielleicht bislang nicht so recht gewürdigt wurde. Diese Verwobenheit resultierte nicht nur aus dem andauernden und intensiven intellektuellen Austausch, sondern auch daraus, dass Engels posthum Werke von Marx herausgab und nicht in jedem Fall klar ist, was von Marx stammt oder was Interpretation von Engels ist. Erschwerend kommt noch hinzu: Marx schrieb permanent an seinen Ideen, modifizierte sie, erweiterte sie, weshalb im Nachlass von Marx eine Fülle von Entwürfen, Vorarbeiten und Fassungen existieren, die mitunter von Inkonsistenzen nicht frei sind. Dieses Schreiben in Permanenz gilt übrigens auch für die Entstehungsgeschichte des 1. Bandes des Kapitals, den Marx immerhin selbst redigierte. Aber selbst diesen modifizierte er in deutsch- und fremdsprachigen Neuauflagen mehrfach (248). Dieses Schreiben in Permanenz gilt noch mehr für den 2. und 3. Band des Kapitals, die Engels bekanntlich auf der Basis unvollendeter Manuskripte herausgab. Engels hat dann bisweilen Dinge stringenter dargestellt, als sie in den verschiedenen Fassungen im Nachlass waren, so dass auch daraus der Bindestrich-Autor "Marx-Engels" erwuchs.
Herres geht differenzierend auch den Inkonsistenzen nach, stellt z.B. für viele Leser wohl überraschend heraus, dass sich bei Marx durchaus Stellen finden, nach denen eine Industrialisierung auch ohne Privatkapitalismus erfolgen könnte (257) oder dass in fortgeschrittenen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften der Übergang zum Sozialismus auch evolutionär-friedlich erfolgen könnte (242). Marx war, was die politischen Entwicklungsmöglichkeiten angeht, in vielem offener als so mancher Marxist. Jürgen Herres ist Mitglied der Redaktion der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Von daher erklärt sich die genaue Kenntnis der Schriften von Marx und Engels. Und nur mit einer solchen Kenntnis war es angesichts der kilometerlangen Sekundärliteratur möglich, eine neue Fragestellung an Marx und Engels heranzutragen und sie quellennah zu beantworten, nämlich die der "intellektuellen Freundschaft". Und genau dies macht den Reiz des Buches aus.
Das Buch ist trotz beträchtlicher theoretischer Analysen in weiten Teilen erzählend geschrieben. Grundlegend neue Erkenntnisse enthält es jedoch nicht und solche waren auch nicht zu erwarten. Es werden jedoch viele entlegene, zwar nicht gänzlich unbekannte, aber wenig beachtete Stellen thematisiert, weshalb als Resultat jetzt ein differenzierteres Bild über die Beziehungen zwischen Marx und Engels vorliegt. Und Differenzierung zwischen Marx und Engels, d.h. Auseinanderhalten von Marx und Engels bei aller Nähe, ist schließlich das Hauptanliegen Buches.
Jürgen Herres formuliert das Ergebnis seines Buches in den letzten Zeilen so: "Zu keinem Zeitpunkt bestand eine unbedingte Identität ihrer Auffassungen. Dazu waren sie in ihren Persönlichkeiten, ihren Lebens- und Arbeitsweisen zu unterschiedlich. Es gibt keine "Veranlassung, sie zu dem Singular 'Marx-Engels' zu mythologisieren...". Und doch: "Es würde Karl Marx nicht ohne Friedrich Engels und Friedrich Engels nicht ohne Karl Marx geben" (271f.).
Manfred Hanisch