Rezension über:

Milena Bartlová: Unsere "nationale" Kunst. Studien zur Geschichte der Kunstgeschichte (= Kompass Ostmitteleuropa; Bd. 1), Ostfildern: Thorbecke 2016, 181 S., ISBN 978-3-7995-1087-5, EUR 25,00
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Rezension von:
Julia Secklehner
Courtauld Institute of Art, University of London
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Julia Secklehner: Rezension von: Milena Bartlová: Unsere "nationale" Kunst. Studien zur Geschichte der Kunstgeschichte, Ostfildern: Thorbecke 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 6 [15.06.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/06/31855.html


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Milena Bartlová: Unsere "nationale" Kunst

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In dieser Aufsatzsammlung, die aus einzelnen Konferenzvorträgen hervorgegangen ist, zeichnet die Mediävistin Milena Bartlová, deren Forschungsinteressen auch Fragen der nationalen Identität im Raum der ehemaligen Tschechoslowakei umfassen, die Historiografie tschechischer "nationaler" Kunst nach - ein Thema, das im Hinblick auf die wachsende Renationalisierung des zentraleuropäischen Raums von großer Relevanz ist und in diesem Kontext auch die Kunstgeschichtsschreibung zur Verantwortung zieht. Bartlová geht davon aus, dass sich die tschechische Gesellschaft heute nicht mehr für die "Themen Nation und nationale Zugehörigkeit interessiert" (14), und sieht dies als ein "Symptom für rituelle Tabuisierung und kollektive Unterdrückung" (15) der Komplexität tschechischer Geschichte, besonders in Relation zu den Minoritäten auf dem Territorium der früheren Tschechoslowakei. In der Betonung alteingesessener Differenzen zwischen dem tschechischen und insbesondere dem deutschen Nationalverständnis empfiehlt Bartlová neue Ansätze der Kunstgeschichtsschreibung, die nicht länger auf den Ideen einer dominierenden nationalen Geschichte aufbauen.

Ein Teil des Buches widmet sich der problematischen Zuordnung kunsthistorischer Objekte, wofür der Znaimer Altar (circa 1440-1445) als Beispiel dient. Im Laufe des frühen 20. Jahrhunderts wurden dem Altar, der durch eine Kombination aus einerseits innovativer Reliefskulptur und andererseits "konservativer oder sogar veralteter" (53) Malerei hervorsticht, verschiedene stilistisch-nationale Eigenschaften zugeordnet, wobei insbesondere die Interpretation Karl Oettingers in den 1930er-Jahren anhand der Gestaltpsychologie eine formalistische, deutsche "rassische" Zugehörigkeit feststellen wollte. Obwohl diese Auslegungsweise eindeutig nationalsozialistisch geprägt war, wurde Oettingers Grundthese, so stellt Bartlová fest, als Basis für weitere Analysen weitergeführt. Diese unkritische Adaption rassischnationalistischer Untersuchungen formt eine der Grundproblematiken für Bartlovás These: Rückständige Interpretationen sind nach wie vor im Umlauf, zwar ihrer prekären ideologischen Hüllen entkleidet, aber dennoch als historische Fakten akzeptiert.

Quasi als Kehrseite benennt die Autorin das Ausklammern der deutschen Geschichtsschreibung in der Tschechoslowakei bereits ab den 1920er-Jahren - ein Ansatz, der, wie Bartlová feststellt, bis heute der dominanteste ist. Um dem etwas entgegenzusetzen, widmet Bartlová ein Kapitel dem deutschsprachigen Prager Kunsthistoriker Josef Opitz, der, wie sie betont, völlig in Vergessenheit geraten ist - einerseits, weil er Deutscher war und nach 1945 das Land verlassen musste, andererseits aufgrund seiner als peripher wahrgenommenen Methodologie, die stark von Jacob Burckhardt und Karel Chytil geprägt war. Das Beiseitelassen nationalzentrierter deutscher Geschichtsschreibung und das Festhalten an der Methodologie der Wiener Schule, die sich durch eine vergleichende Stilanalyse positivistischer Prägung auszeichnete, schufen, laut Bartlová, ein einheitliches System tschechischer nationaler Kunsthistoriografie, das bis heute wenig Raum für alternative Ansätze lasse.

Zur Lösung national-ethischer Probleme der Kunstgeschichte, die sie so sorgfältig skizziert, schlägt Bartlová einen "Verzicht auf Vorstellungen von einer essentiellen Stabilität und Kontinuität des ethnischen oder nationalen Prinzips" vor (130): Sie betont die Notwendigkeit, historische Interpretationen neu zu konstruieren, anstatt auf gegebenen Zuordnungen aufzubauen. Zum Teil könnte dies mit Ansätzen wie der Methodik David Summers' gelingen, die einen einheitlichen Fokus auf Kunstobjekte "vom Paläolithikum bis zur Gegenwart in jeder beliebigen Weltkultur" empfiehlt (131). [1] Wie die Autorin eingesteht, ist dies ein komplexes, aber eben auch notwendiges Unterfangen, da "die gesellschaftliche und politische Situation in Europa im frühen 21. Jahrhundert nicht viele andere Alternativen bietet" (132).

Insgesamt bietet Bartlová anhand der angeführten Beispiele aus der Mediävistik eine detaillierte Studie zur tschechischen Kunstgeschichtsschreibung als eine vom nationalen Denken beeinflusste Tradition. Obwohl sie potenzielle Lösungen für neue Ansätze in der Kunstgeschichte nur skizziert und sich der Großteil des Buches mit der Problematik der historischen Geschichtsschreibung beschäftigt, stellt sie dennoch Fragen, die als Leitmotiv dienen können. Daher wäre es auch wichtig, außerhalb der Mediävistik problematische Beispiele aufzuführen, welche die Wichtigkeit dieses Unterfangens betonen. Bezugnehmend auf das Ziel der Verfasserin, Diskussionen über Nationalverständnis im öffentlichen Raum anzuregen, wie sie in ihrer Einleitung betont, muss das Thema noch breiter untersucht werden. Dennoch liefert Bartlovás kritische Analyse der nationalen Kunsthistoriografie Argumente für neue Ansätze in der Kunstgeschichte, die das Potenzial in sich bergen, die oft engen national-ethnischen Grenzen des zentraleuropäischen Raumes zu überschreiten, und die sicherlich nicht allein für den tschechischen Kontext und die Mediävistik von Bedeutung sind.


Anmerkung:

[1] David Summers: Real Spaces. World Art History and the Rise of Western Modernism, London 2003.

Julia Secklehner