Christian Rau: Stadtverwaltung im Staatssozialismus. Kommunalpolitik und Wohnungswesen in der DDR am Beispiel Leipzigs (1957-1989) (= Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung; Bd. 18), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2017, 425 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-11530-8, EUR 68,00
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Die Forschung über die DDR löste sich in den letzten Jahren von normativen Großtheorien wie der Totalitarismustheorie. Forschungsanstrengungen fokussieren stattdessen auf konkrete Akteure wie Behörden, Verwaltungen und "Apparate" (beispielsweise zuletzt die Studie von Rüdiger Bergien zum zentralen Parteiapparat der SED) und ihre ambivalente Rolle in der Diktatur. Die Neuentdeckung von Verwaltungen - hier besteht eine bemerkenswerte Parallele zur Forschung zum nationalsozialistischen Deutschland, bei der, wenn auch teils aus anderen Gründen, ebenfalls Verwaltungen überproportional häufig Beachtung fanden - ging einerseits oft einher mit der Frage nach Handlungsspielräumen, andererseits aber auch nach der widersprüchlichen Funktion von Verwaltungsstrukturen.
Das hier zu besprechende Buch von Christian Rau reiht sich in diesen Trend ein. Es besteht aus einem einführenden Kapitel zur Stellung Leipzigs in der DDR (I), es folgen die drei Hauptkapitel, in denen am Beispiel Leipzigs Kommunalpolitik als Diskussions- und Konfliktfeld behandelt wird (II) und diese Handlungs- und Akteurskonstellation schließlich am Beispiel des Leipziger Bauwesens bzw. der Baupolitik (III) und des Leipziger Wohnungswesens bzw. der Wohnungspolitik näher analysiert werden.
In einem kontextualisierenden Kapitel (I) wird zunächst der Zusammenhang zwischen Stadtplanung, wirtschaftlicher Bedeutung und der Rolle Leipzigs als Aushängeschild kurz skizziert und der Frage nachgegangen, was das für die politischen Rahmenbedingungen bedeutet und welche Machtstrukturen im System DDR zu berücksichtigen sind. In dem (längsten) Kapitel II rücken dann konkrete Strukturen und Personal der kommunalen Selbstverwaltung in den Blick. Rau präsentiert hier eine Dreiecksgeschichte zwischen lokaler Verwaltung, Zentrale und den Sowjets. Während letztere einerseits vor allem in den ersten Nachkriegsjahren als Vorbild galten, war für die SED zunächst die Wahrung ihrer Interessen, vor allem die Frage der Machtdurchdringung und -durchsetzung essentiell. Das bedeutete, dass sich immer auch eigensinnige Verhaltensweisen beobachten ließen und zwar der deutschen Akteure gegenüber dem sowjetischen Vorbild (65) und der Peripherie gegenüber dem Zentrum - allerdings ohne dass dies eine grundsätzliche Konfrontation bedeutet hätte. In den Kapiteln III und IV werden schließlich mit dem Bau- und Wohnungswesen konkrete Handlungsfelder untersucht und zwar in der Interaktion der Stadtverwaltung mit anderen Verwaltungsebenen, der Partei und der Bevölkerung. Rau lotet hier die verschiedenen konkreten Interessenlagen aus, bestimmt relevante Akteure und Strukturen und arbeitet Freiräume vor Ort heraus.
Rau geht es um ein tiefergehendes Verständnis des Herrschaftssystems der DDR mit seinen unterschiedlichen und mitunter widersprüchlichen Ebenen. Dabei will er sich von den meist westlich bzw. totalitarismustheoretisch beeinflussten und medial dominierenden Stereotypen lösen. Am Beispiel der Kommunalverwaltung will er die "räumliche Dimension der Sozialgeschichte der SED-Herrschaft" ausloten und dabei einen "eigenen Spielregeln folgenden, gleichwohl nicht unabhängigen Machtraum" erkunden (13). Das bedeutet einerseits auf die Reichweite des SED-Planungsmonopols, andererseits auf die Handlungschancen lokaler Funktionäre zu schauen, wobei Rau besonders auf "situative Dynamiken und Wechselbeziehungen zwischen Zentrale und Kommune" achtet (13). Methodisch lotet Rau den Staatsapparat der DDR als Mehrebenensystem aus und versucht damit eine "bestimmte Sichtweise auf Verwaltung [...] jenseits formaler Strukturen auf Aushandlungsprozesse, Kompetenzverflechtungen, Interessenkonflikte sowie das Zusammenspiel von Institution und Umwelt" einzunehmen, da "lokal-räumliche Entscheidungen gemeinsam, d.h. zwischen allen Ebenen, koordiniert" getroffen werden mussten (15).
Ausgangspunkt der Überlegungen Raus ist damit ein wichtiger Aspekt der DDR-Forschung, nämlich das Verhältnis zwischen Zentrale und Peripherie. Dieses Verhältnis ist in der Vergangenheit und vor dem Hintergrund der Blockkonfrontation und der Situation nach 1989/90 oft sehr stereotyp behandelt worden. Losgelöst von diesen alten Stereotypen, wird eine spannende Aporie der Herrschaftsverhältnisse in der DDR deutlich. So sah die SED eine wichtige Quelle ihrer Macht in einer möglichst geringen Formalisierung, um auf diese Weise möglichst immer im eigenen Sinne agieren zu können. Andererseits bedeutete das, dass sich dort, wo die SED nicht expliziert agieren wollte oder konnte, Gestaltungsspielräume auftaten, die "vor Ort" genutzt werden konnten. Der Eigen-Sinn und die Eigeninteressen, die in der Analyse der Handlungsspielräume zu beobachten sind, relativieren fiktionale Vorstellungen von der "Totalität" einer totalitären Diktatur. Damit knüpft Rau an die alltagsgeschichtlichen Forschungen Alf Lüdtkes an. Dass solche Eigeninteressen und dieser Eigen-Sinn nicht als Konkurrenz in der Diktatur, sondern als "Strategien der Krisenbewältigung" (12) interpretiert werden sollten, zeigt Rau sehr konturiert. Sein Buch zeigt zudem eindrücklich, dass die (gewollten) konzeptionellen und strukturellen Unschärfen kompensierende Steuerungsmechanismen verlangten, womit die Bedeutung des Informalen in der Praxis anstieg. Die Koordinationskosten dieser quasi stetig nötigen Ausgleichsprozesse waren dabei enorm und trugen nicht unerheblich zur Erosion der SED-Herrschaft bei, da enorme Ressourcen in diese Selbstverständigungs- und Selbststabilisierungsprozesse der verschiedenen Ebenen gebunden waren und damit nicht mehr zur Lösung drängender Probleme zur Verfügung standen.
Als bedeutendste Leistung des Buches von Christian Rau ist festzuhalten, dass die strukturelle, diskursive und personelle Dimension miteinander verschränkt werden. Die Geschichte von Verwaltungshandeln erschöpft sich dadurch nicht in einer Abfolge von Verwaltungsakten oder wird vor dem zeitgenössischen ideologischen Narrativ des Primats der Partei erzählt, sondern integriert wichtige Dimensionen wie Personen oder Interessen, ohne die eine Geschichte von Verwaltung in der Diktatur eindimensional bleiben muss.
Dass dabei die einzelnen Teile mitunter auffallend ungleichgewichtig ausfallen (Kapitel II 140 Seiten, Kapitel III 60 Seiten, Kapitel IV 110 Seiten), ist teils schade teils lässlich. Bedauerlicher ist, dass die beiden großen Teile - Kommunalpolitik als Diskussions- und Konfliktfeld am Beispiel Leipzig (etwa 140 Seiten) und die Handlungsfelder Bau- und Wohnungswesen (170 Seiten) nicht noch stärker aufeinander bezogen wurden. Ist dies aus pragmatischer Sicht nachvollziehbar, muss der Leser schon konzentriert bei der Sache bleiben, will er den übergeordneten roten Faden nicht verlieren. Darüber hinaus wirft auch die Auswahl des Fokus Fragen auf. Ist sowohl Leipzig als Untersuchungsraum wie auch die Handlungsfelder durchaus gut begründet, stellt sich schon die Frage, wie die Leipziger Entwicklung im Vergleich zu anderen Kommunen zu verorten ist und in welcher Relation die gewählten Handlungsfelder zu anderen denkbaren Feldern stehen. Im Rahmen des pragmatisch Machbaren wären hier einige Seitenblicke wünschenswert gewesen.
Insgesamt handelt es sich bei der Studie um einen gelungenen Versuch, administrative aber auch diskursive Ebenen, die oft genug unverbunden bleiben, zu verknüpfen. Für die Erforschung einer Diktatur kann die Konzentration auf empirische Phänomene statt normative Prämissen nur gewinnbringend sein. Dass dabei die Rolle von Verwaltung und insbesondere die Verschränkung von Ebenen in der Verwaltungspraxis behandelt werden, macht das Buch zu einem wichtigen Puzzlestück in dem Versuch, die institutionelle Funktionsweise von Diktaturen besser zu verstehen.
Markus Goldbeck