Rezension über:

Michael Sauer / Charlotte Bühl-Gramer / Anke John u.a. (Hgg.): Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen - Grenzüberschreitungen - Grenzverschiebungen (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 12), Göttingen: V&R unipress 2016, 436 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-0635-7, EUR 55,00
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Rezension von:
Thomas Hellmuth
Institut für Geschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Hellmuth: Rezension von: Michael Sauer / Charlotte Bühl-Gramer / Anke John u.a. (Hgg.): Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen - Grenzüberschreitungen - Grenzverschiebungen, Göttingen: V&R unipress 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 7/8 [15.07.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/07/30541.html


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Michael Sauer / Charlotte Bühl-Gramer / Anke John u.a. (Hgg.): Geschichte im interdisziplinären Diskurs

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Der Band "Geschichte im interdisziplinären Diskurs" ist Ergebnis der XXI. Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik, die im Jahr 2015 an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen abgehalten wurde. Fünf Sektionen dieser Tagung werden abgebildet: Die erste Sektion widmet sich den historischen Dimensionen in den Didaktiken kulturwissenschaftlicher Felder, die zweite dem fächerübergreifenden und fächerverbindenden historischen Lernen und Lehren. Die dritte Sektion wendet sich den Fragen der "Grenze" und "Entgrenzung" beziehungsweise den "Grenzgängern", die vierte der Grenzverschiebung und den Raumbezügen historischer Bildung zu. Die fünfte und letzte Sektion schließlich sucht Antworten auf die Frage "Quo vadis, Geschichtsdidaktik?", wobei hier versucht wird, die Bezugsdisziplinen der Geschichtsdidaktik auszuloten. Es wird also vielerlei Interessantes versprochen und auch geboten, wobei - so viel sei hier vorweggenommen - vieles davon ob der Breite der Themenfelder fragmentarisch bleibt.

Die erste Sektion (mit Beiträgen von Kunibert Bering, Konstantin Lindner, Laurenz Volkmann und Carolin Führer eingeleitet durch Charlotte Bühl-Gramer) beschäftigt sich mit der historischen Dimension in den Fächern Kunstgeschichte, Religion, Englisch und Deutsch beziehungsweise im deutschen Literaturunterricht. Deutlich wird dabei, dass zwar die historische Dimension in diesen Fächern als zentral betrachtet wird, allerdings auch eine zunehmende Enthistorisierung durch Richtlinienvorgaben festzustellen ist. Zudem fehle es - so der allgemeine Befund - auch weitgehend an einer theoretischen Fundierung des Historischen in den Fächern. Dies lässt sich etwa exemplarisch an den "Meistererzählungen" im Literaturunterricht zeigen, die letztlich die theoretischen Reflexionen über Multiperspektivität und Dekonstruktion sowie Geschichtsbewusstsein, Gedächtnis und Erinnerung missen lassen.

Die zweite Sektion (mit Beiträgen von Peter Gautschi/Nadine Fink, Oliver Plessow, Michele Barricelli und Nikola Forwergk/Wolfgang Moschek sowie einer Einleitung von Astrid Schwabe) widmet sich dem historischen Lernen im Fächerverbund und interdisziplinären Unterrichtsmodellen. Indem die Frage nach Eigenständigkeit der Fächer und deren Überschneidungen gestellt wird, zeigt sich auch das Problem einer Definition des fächerverbindenden und fächerintegrativen Unterrichts: Was ist damit gemeint? Wie sehr konkurrieren die einzelnen Fächer miteinander oder verlieren manche von ihnen ihr Profil beziehungsweise müssen sich bestimmte Fächer einem anderen Fach unterordnen? Auch weiterhin bleibt die Frage offen, wie fächerübergreifender oder fächerintegrativer Unterricht gestaltet werden könnte. Die Vorschläge sind vielfältig, allgemein akzeptierte theoretische Modelle scheinen noch unausgereift.

In der dritten Sektion (mit Beiträgen von Wolfgang Hasberg, Patrick Ostermann, Ullrich Kockel und Daniel Groth eingeführt von Alfons Kenkmann) und ebenso in der vierten Sektion (Beiträge von Bernd-Stefan Grewe, Anja Neubert und Ivonne Driesner mit einer Einleitung von Anke John) werden vor allem der 'spatial turn', damit verbunden die räumlichen Grenzen oder aber Entgrenzungen sowie deren Auswirkungen auf das Geschichtsbewusstsein diskutiert. Wolfgang Hasbergs Beitrag fällt hier aus dem Rahmen, zumal er sich vor allem mit den Grenzen der Wissenschaftsdisziplinen beschäftigt. Die Trennung beider Sektionen im Band scheint ansonsten eher textstrukturellen als inhaltlichen Überlegungen geschuldet: Wenn beispielsweise Ullrich Kockel über "Europas Einheit in der Vielfalt" (262), Daniel Groth die "'Europäisierung' der kolonialen Vergangenheit" und Bernd-Stefan Grewe die Entgrenzung der Räume durch globalgeschichtliche Ansätze diskutieren, so ist ihnen durch die Infragestellung regionaler, lokaler und nationaler oder auch supranationaler Grenzen das Thema der räumlichen Grenzüberschreitungen und deren Verankerung im Bewusstsein durchaus gemeinsam.

Schließlich werden in der fünften Sektion (mit Beiträgen von Bettina Alavi, Bodo von Borries, Frank-Michael Kuhlemann und Thomas Sandkühler sowie einer Einleitung von Christian Kuchler) die Bezugsdisziplinen und Bezugsfelder der Geschichtsdidaktik ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Freilich lassen sich nicht alle für die Geschichtsdidaktik wichtigen Fächer in einem solchen Sammelband erfassen. So fehlen die sprach- und literaturwissenschaftlichen Fächer und die politische Bildung, während die Pädagogik, die empirische Bildungsforschung und die historische Religionsforschung sowie - in einem wichtigen Beitrag von Thomas Sandkühler, der auch die Emanzipation der Geschichtsdidaktik von ihrer "Mutterdisziplin" zeigt - die Geschichtswissenschaft Erwähnung finden. "Gemeinsam ist allen Beitragenden", schreibt Christian Kuchler in seiner Einleitung zur fünften Sektion, "dass sie die von ihnen vorgetragenen Nachbar- und Bezugsdisziplinen nicht an die Stelle der primären Bezugsdisziplin Geschichtswissenschaft stellen würden, dennoch aber überzeugend nachweisen, dass eine Engführung der Didaktik der Geschichte auf ihr 'Mutterfach' entschieden zu kurz greifen und ein erhebliches Entwicklungspotential vernachlässigen würde" (360f.).

Charlotte Bühl-Gramer kommt die verdienstvolle Aufgabe zu, in einer allgemeinen Einleitung die Vielfalt oder Heterogenität der Beiträge zusammenzufassen. Sie versucht dies mit einer Definition der Begriffe "Interdisziplinarität" und "Grenze", wobei sie für interdisziplinäres Vorgehen die Reflexion über die eigene Disziplin als Voraussetzung betrachtet. Der interdisziplinäre Diskurs erfordere "immer auch Überlegungen" zur "eigenen Disziplin und [zu] ihren Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen, zu ihrem Profil und Proprium" (30). Damit formuliert sie Grundlegendes: Die Grenzen können nur überschritten oder alternativ verschoben werden, wenn sich Geschichtsdidaktiker*innen der eigenen Potentiale und der damit verbundenen Grenzen bewusst sind. Da es sich bei der Geschichtsdidaktik um eine - je nach Perspektive - recht junge (und wohl noch immer recht unausgereifte) wissenschaftliche Disziplin oder Dimension der Geschichtswissenschaft handelt, stellt sich die Frage der eigenen Grenzen und damit der Bezugsdisziplinen noch verstärkt.

Insgesamt bietet der Band einen tiefen Einblick in die Vielfalt der heutigen Geschichtsdidaktik und in deren innovative Ansätze, gleichzeitig wird aber das übergreifende Thema der Interdisziplinarität auch als überstrapazierte Konstruktion sichtbar, zumal etwa theoretische Überlegungen zur Didaktik kulturwissenschaftlicher Fächer sowie methodische Grenzüberschreitungen mit dem 'spatial turn' in Verbindung gebracht werden. Nun sind zwar räumliche und kulturwissenschaftliche Grenzen nicht unabhängig voneinander zu denken, dennoch erscheint der Band hier doch ein wenig überambitioniert. Vieles wird angesprochen, diskutiert, Vieles auch nur angedeutet, wobei dies freilich auch auf das Tagungsformat zurückzuführen ist. Auf Jahrestagungen wie jener der Konferenz für Geschichtsdidaktik muss eben viel Unterschiedliches unter ein "Dach" gebracht werden. Die Problematik der starken Heterogenität der Beiträge sowie des Konstruktionscharakters des Bandes zeigt sich beispielsweise auch darin, dass eigentlich die Bezugsdisziplinen der Geschichtsdidaktik (Sektion 5) nicht unabhängig vom fächerübergreifenden beziehungsweise fächerverbindenden historischen Lernen (Sektion 3) und gleichermaßen den historischen Dimensionen kulturwissenschaftlicher Fächer (Sektion 1) gedacht werden können.

Zudem zeigt sich wieder einmal ein Problem der (deutschsprachigen) Geschichtsdidaktik, die - was zunächst durchaus als positiv zu werten ist - stark theorieorientiert ist, sich der Praxis aber oftmals nur recht ungern zu widmen scheint. Freilich gibt es sozusagen Ausflüge in die "Niederungen" der Schulpraxis und außerschulischen Lernorte, zum Beispiel wenn Peter Gautschi und Nadine Fink den Schweizer Lehrplan 21 beschreiben oder Bernd-Stefan Grewe globalgeschichtliches Lernen in den Zusammenhang mit forschend-entdeckendem Lernen bringt. Letztlich bleiben die Ausführungen aber gleichsam auf halbem Weg stecken und es drängt sich die Frage auf, warum nicht doch auch einmal theoretisch-methodisch fundierte Unterrichtsentwürfe und Materialien gemeinsam mit theoretischen Überlegungen angeboten werden können. Solche Praxisvorschläge könnten letztlich dazu dienen, den theoretischen Diskurs, der durchaus eine Stärke der Geschichtsdidaktik darstellt, auch gezielt in den Lebenswelten von Lehrer*innen und Schüler*innen ankommen zu lassen.

Trotz dieser Kritik ist die Lektüre des Bandes unbedingt zu empfehlen, nicht zuletzt weil die Vielfalt und Breite des gegenwärtigen geschichtsdidaktischen Diskurses sichtbar wird. Längst hat sich die Geschichtsdidaktik zu einer ernstzunehmenden Disziplin oder zumindest historischen Dimension der Geschichtswissenschaft entwickelt, die gleichwertig neben fachwissenschaftlicher Theorie und Empirie bestehen kann. Der Band liefert ein beredtes Beispiel dafür.

Thomas Hellmuth