Florian M. Lim: Die Brüder vom Gemeinsamen Leben im 15. Jahrhundert in Deutschland. Vom Münsterschen Kolloquium zum Oberdeutschen Generalkapitel: Eine kirchenrechtsgeschichtliche Untersuchung über Eingliederung und Gemeinschaftsform der süddeutschen Kanoniker (= Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter. Abhandlungen; 71), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2017, VIII + 210 S., ISBN 978-3-643-13802-6, EUR 34,90
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In der gegenwärtig florierenden Forschung zu den religiösen Lebensformen des Mittelalters werden die Brüder vom Gemeinsamen Leben vergleichsweise selten eingehender untersucht. Eine der wichtigsten Monografien zum Thema hat Gerhard Faix vor mittlerweile fast zwei Jahrzehnten vorgelegt [1]; daran knüpft die vorliegende Studie von Florian M. Lim an. Dass es sich dabei um eine theologische Lizentiatsarbeit der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster handelt, sei eingangs erwähnt, da dies den Rahmen und die Intensität der Bearbeitung der einzelnen inhaltlichen Schwerpunkte bedingt. Ebenfalls erwähnt sei, dass der Verfasser selbst Mitglied der Augustiner-Chorherren-Kongregation der Brüder vom Gemeinsamen Leben ist, der sein Thema jedoch mit wissenschaftlicher Distanz behandelt.
Die Schwerpunkte der vorliegenden Arbeit sind in Titel und Unterkapitel klar definiert: Lim fragt in seiner kirchenrechtsgeschichtlichen Untersuchung nach der Eingliederung und der Gemeinschaftsform der süddeutschen Kanonikergemeinschaften der Brüder vom Gemeinsamen Leben, die aus der devotio moderna hervorgingen und sich ab Anfang des 15. Jahrhunderts in Deutschland ausbreiteten, wobei sie regionale Schwerpunkte u.a. in Württemberg bildeten. Es geht Lim demnach weniger um Fallstudien zur Geschichte einzelner Brudergemeinschaften, sondern um die übergreifende Frage nach deren Stellung im mittelalterlichen Ordenswesen.
Dazu gibt Lim nach einer Einleitung im zweiten Kapitel zunächst einen Überblick über die Anfänge der Brüder vom Gemeinsamen Leben in Norddeutschland (5-22). Darin werden die wesentlichen Bestimmungen zur Aufnahme neuer Brüder verglichen, wie sie in den consuetudines der Häuser in Münster, Wesel und Herford festgeschrieben sind. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach den Rechtsformen und -folgen von Gelübden, was seitens der Forschung als ausschlaggebend für die kirchenrechtliche Eingruppierung von Religiosengemeinschaften angesehen wird.
Im dritten Kapitel wird die Ausbreitung dieser Lebensform in mittelrheinischen und süddeutschen Städten thematisiert (25-41). Eine besondere Rolle kam hier Gabriel Biel zu († 1495), der die Besetzung der Stiftskirche am Wallfahrtsort Marienthal 1463 mit Mitgliedern der Kölner Brudergemeinschaft vermittelte. Erst dabei kamen die Privilegien Papst Eugens IV. von 1439 zur Anwendung, durch die den Niederlassungen der Brüder die Rechtsform von Kollegiatkirchen zugestanden wurde. Ähnlich wurde auch bei der Umwandlung der Pfarrkirche in Butzbach in eine Kollegiatkirche verfahren. Die dort vor 1468 erfolgte Einrichtung des Markusstiftes wurde in jenem Jahr von Papst Paul II. bestätigt, auch mit der Möglichkeit des Zusammenschlusses mehrerer Häuser zu einem Generalkapitel. In den 1470er- und 1480er-Jahren folgten die von den württembergischen Landesherren geförderten Gründungen in Urach, Wolf, Dettingen und Tachenhausen. Lim wertet nun die in den Zeitraum zwischen 1495 und 1514 zu datierenden Statuten des Oberdeutschen Generalkapitels hinsichtlich der Frage nach verschiedenen Aspekten der Aufnahme der Brüder aus, wie z.B. die Formen der Aufnahme, das Noviziat, das Gelübde und die Rechtsfolgen des Eintritts.
Im vierten Kapitel wird die stiftische Lebensform der Brüder vom Gemeinsamen Leben mit derjenigen der weltlichen Kollegiatstifte und der Regularkanonikerstifte verglichen. Dabei werden verschiedene Aspekte angeführt, in die dann das "devote Stift" eingeordnet wird (43-61). Dazu zählen z.B. Gründungsmodalitäten, Organisationsformen, Einflussmöglichkeiten durch den Stifter bzw. den Ortsbischof, Handlungsspielräume und Spiritualität. Mit Blick auf diese breiten Themenbereiche wird deutlich, welch großes Potenzial in diesen Fragen liegt, die Lim hier noch eher unter Wiedergabe des Forschungsstandes behandelt.
Das fünfte Kapitel widmet Lim in einer übergreifenden Annäherung dem "Ordensrecht im mittelalterlichen ius commune" (63-101). Darin werden die verschiedenen Rechtsquellen und Verfassungselemente unterschiedlicher Orden, wie z.B. das Generalkapitel, das Visitationswesen oder die Appellation an den Papst vorgestellt. Vertieft werden zudem rechtliche Bestimmungen für die Ordenszugehörigkeit, beispielsweise das Noviziat und die Profess, aber auch der Übertritt in andere Religiosengemeinschaften und die Klosterflucht.
Auf den bisher erzielten Erkenntnissen aufbauend erfolgt im sechsten Kapitel der eigentliche Vergleich mit den Statuten des Oberdeutschen Generalkapitels mit dem Ziel, die süddeutschen Kanoniker vom Gemeinsamen Leben besser in das Ordenswesen einordnen zu können (103-117). Lim betont, dass das "'devote Kollegiatstift' der oberdeutschen Brüder eine eigene rechtliche, durch päpstliche Privilegien geprägte, Form gefunden [hat]" (105). Als Kriterien für diesen Ordensstatus werden das regelmäßig tagende Generalkapitel, die Visitationen und das Appellationsverbot an den Papst angeführt und dadurch die "Konstitutivelemente eines Ordens für die Statuten des Oberdeutschen Provinzialkapitels" festgestellt (109). Das feierliche Gelübde als viertes Element der mittelalterlichen Orden wird daran angeknüpft (110-117).
Kurz und bündig fallen Kapitel 7 zur "Münsterschen Union von 1499" und Kapitel 8 "Schlussbemerkungen" aus; eigens zu erwähnen sei schließlich der Anhang, in dem Schlüsseltexte wiedergegeben werden, hier einzelne consuetudines, päpstliche Privilegien und Statuten.
Das Verdienst der vorliegenden Arbeit liegt darin, dass Lim eine weniger beachtete religiöse Lebensform untersucht und - an prominenter Stelle publiziert - in den Forschungsdiskurs einbringt. Darüber hinaus erscheinen die kirchenrechtlichen Fragestellungen zur Einordnung der Brüder vom Gemeinsamen Leben in den Kontext der spätmittelalterlichen Formen der vita religiosa als weiterführend und die ersten vorgelegten Ergebnisse überzeugend. Zu wünschen ist, dass der Autor seine Forschungen zu diesem vielversprechenden Thema über die Hauptthese - und zwar die Beweisführung, dass das Oberdeutsche Generalkapitel als Orden einzustufen ist - hinaus noch fortsetzen und dabei weitere Fragestellungen, wie z.B. die reale Umsetzung normativer Vorgaben, den überregionalen und ordensübergreifenden Vergleich oder die Entwicklung der Schwesterngemeinschaften vom Gemeinsamen Leben, einbeziehen könnte.
Anmerkung:
[1] Gerhard Faix: Gabriel Biel und die Brüder vom Gemeinsamen Leben. Quellen und Untersuchungen zu Verfassung und Selbstverständnis des Oberdeutschen Generalkapitels (= Spätmittelalter und Reformation; Neue Reihe 11), Tübingen 1999.
Jörg Voigt