Margrit Seckelmann / Johannes Platz (Hgg.): Remigration und Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945. Ordnungsvorstellungen zu Staat und Verwaltung im transatlantischen Transfer (= Histoire; Bd. 116), Bielefeld: transcript 2017, 301 S., eine Tabl., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-3969-8, EUR 34,99
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Remigrierte Wissenschaftler hatten einen wesentlichen Anteil an der erfolgreichen Entwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik. Um welche Remigranten es sich handelte und wie genau diese Einflüsse wirkten, ist in der Exilforschung seit den 1990er Jahren umfangreich und detailliert analysiert worden. Hier kommen u.a. Claus-Dieter Krohn und Alfons Söllner entscheidende Verdienste zu: sie haben Studien vorgelegt und Aufsatzbände herausgegeben, die unsere Kenntnisse in diesem Feld der Wissenschaftsgeschichte bereichern. Der vorliegende Band, herausgegeben von der am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer wirkenden Margrit Seckelmann und Johannes Platz von der Friedrich-Ebert-Stiftung, leistet einen Beitrag zu dieser Forschung zwischen Exil-, Migrations-, Wissenschafts- und Demokratiegeschichte.
Der Band mit einer knappen Einleitung der Herausgeber enthält 13 Beiträge einer Tagung, die Ende 2016 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin durchgeführt wurde. Die Herausgeber haben die einzelnen Aufsätze fünf Abschnitten zugeordnet: "atlantischer Transfer verwaltungswissenschaftlicher Konzepte" (23-45), "Rahmenbedingungen" (49-95), "Theorie und Praxis: Remigranten und sojourners" (97-217), "Alternative Verläufe: Exil in Palästina, bewusste Nicht-Remigration und 'innere Emigration'" (219-276) sowie "Bilanz und Perspektiven" (277-291). Diese Einteilung wirkt etwas bemüht, und die Zwischenüberschriften sind - entweder vage oder verwirrend - wenig überzeugend. Am Ende enthalten die ersten zwei und das letzte Kapitel systematisch-institutionelle Überblicke, der dritte und vierte Teil bestehen aus biographischen Skizzen über Remigranten und Nicht-Rückkehrer, denen acht Porträtfotografien vorangestellt sind.
Der Band, so erläutern es Seckelmann und Platz, soll ein Beitrag zu einer erneuerten "Ideengeschichte der Remigration" sein und ist explizit als "Versuch" deklariert, "ganz verschiedene Ansätze zur Remigrationsforschung zusammenzuführen" (14). Bislang habe es "biographisch-werkgeschichtlich/doxographische" Zugänge gegeben, die durch kollektivbiographische Forschungen ergänzt worden seien. Die Studien dieses Bandes sollen zu einer "Wirkungs-, Diskurs- oder Ideengeschichte der Remigration" (14) führen. Es gehe um den Nachweis von "Diskurskoalitionen" (Peter Wagner), das heißt um das "Zusammenwirken von Akteuren über Handlungsfeldgrenzen hinweg" (17). Damit sollen akteurs- und diskursanalytisch die Denkkollektive (L. Fleck, T.S. Kuhn) in der frühen Demokratiegeschichte der Bundesrepublik nach 1945 "notwendigerweise exemplarisch, aber keinesfalls abschließend" (18) untersucht werden. Der Band sei "explorativ und lückenhaft", erklären die Herausgeber (19), um sich davor zu schützen, dass man ihnen das Fehlen von Studien über Eric Voegelin oder Franz Neumann vorwerfen könne (20). Dabei würde man als Leser weder Vollständigkeit noch Endgültigkeit in diesem Forschungsfeld erwarten. Was man aber jenseits dessen erhofft, ist eine konzeptionelle Geschlossenheit und eine leitende Fragestellung.
In der Einleitung finden sich zwar kurze Hinweise zum Aufbau des Bandes, aber keine näheren Erläuterungen, was die Organisatoren unter den im Untertitel angesprochenen "Ordnungsvorstellungen zu Staat und Verwaltung" verstehen und was genau der "transatlantische Transfer" konkret beinhaltet. Auch wird daraus nicht etwa eine spezifische Fokussierung der ideengeschichtlichen Ansätze hergeleitet, geschweige denn ein die einzelnen Beiträge zusammenbindendes Konzept entwickelt. Verwundert nimmt man dann jedoch zur Kenntnis, dass Margrit Seckelmann in ihrem eigenen Beitrag über Morstein Marx, die (angebliche) "Leitfrage des Sammelbandes" erwähnt, nämlich, "inwieweit Max Webers Bürokratiekonzept über die Remigranten und von diesen vor den NS-Verfälschungen bewahrt den Weg in die Bundesrepublik Deutschland gefunden hat" (146). Wenn man diese Leitfrage den einzelnen Autorinnen und Autoren vermittelt hätte, wäre sicher verhindert worden, dass in vielen Beiträgen Max Weber und sein Werk nicht einmal erwähnt werden.
Die einzelnen Beiträge gehen vielmehr individuell auf das jeweils selbst gewählte und inhaltlich ausgestaltete Thema ein. Sie dringen damit unterschiedlich tief in die Biographie ihrer Akteure bzw. übergeordnete Fragestellungen ein. Es handelt sich in vielen Fällen um Aufsätze, die in einem größeren Forschungszusammenhang entstanden sind. Der Wissenschaftskontext ist - wie bei dem Untertitel zu erwarten- interdisziplinär, denn Ordnungsvorstellungen spielen bei Sozialwissenschaftlern wie Max Weber ebenso eine Rolle wie bei Juristen, Politikwissenschaftlern oder Historikern. Zu den in diesem Band behandelten Juristen zählen Fritz Morstein Marx, Arnold Brecht, Hans Simons, Hans Kelsen und Hans Peters. Die Politikwissenschaft ist vertreten durch Studien über Ernst Fraenkel und Siegfried Landshut, die Sozialwissenschaft mit Beiträgen über Max Weber und Theodor W. Adorno.
Den Auftakt des Bandes bildet ein Aufsatz von Uta Gerhardt über Emigration und Remigration nicht einer Person, sondern einer Idee: Das Werk von Max Weber, das in der NS-Zeit verfemt war und es auch in der frühen Bundesrepublik bis Anfang der 1960er Jahre schwer hatte, remigrierte durch den US-amerikanischen Weber-Forscher Talcott Parsons, der Weber in den 1930er Jahren entdeckt hatte, in den 1960er Jahren in die Bundesrepublik.
Leonie Breunung präzisiert in ihrem Beitrag auf der Grundlage eines größeren Forschungsprojekts zur Erstellung eines bio-bibliographischen Handbuchs die Zahl der nach 1933 vertriebenen (habilitierten) Juristen und beziffert sie auf 26,4 % von knapp 500 Personen. Von den absolut 131 Personen wurden 89 aus rassischen und 42 aus politischen Gründen ihres Amtes enthoben, 69 von ihnen retteten sich ins Exil, 40 erlangten eine wissenschaftliche Position, und 18 von ihnen gelang dies in den USA. Von diesen wiederum kehrten gerade einmal sieben Forscher nach 1945 zurück in die Bundesrepublik bzw. die Schweiz. Unter den Prominenten befanden sich auch die Staats- und Verwaltungsrechtler Hans Kelsen, Hans Nawiasky, Gerhard Leibholz und Karl Loewenstein, die mit Ausnahme von Kelsen remigrierten und einflussreich wurden.
Katrin Krehan untersucht vergleichend die Reintegration von Wissenschaftlern in die Humboldt- und die Freie Universität Berlin. In der "Ostzone" war eine Rückkehr nur unter ideologischen Vorzeichen erwünscht; die West-Berliner Remigranten dagegen wurden - egal ob dauerhaft oder partiell - zu Leitfiguren des demokratischen Wiederaufbaus. Sie abschließend zu "Pionieren der globalisierten Wissensgesellschaft" (81) zu stilisieren, erscheint hingegen nicht nur übertrieben, sondern auch begrifflich unzeitgemäß.
Frieder Günthers Beitrag verdeutlicht, sehr präzise am Tagungsthema orientiert, wie sich in den 1950er Jahren selbst auf dem Gebiet der Verwaltungspolitik ein Reformdenken nachweisen lässt. Die ansonsten eher konservativ-restaurativ beurteilte Adenauer-Zeit müsse auch aufgrund anderer Wandlungsprozesse eher als "Übergangszeit" (95) charakterisiert werden. Günther zeigt den Einfluss des amerikanischen Reorientation-Programms, das jenseits der wissenschaftlichen Remigration in der Verwaltungspraxis wirksam war.
Im biographischen Teil des Bandes werden die in der Geschichtsforschung seit den 1990er Jahren virulenten Thesen der "Westernisierung" (Anselm Doering-Manteuffel) und "Fundamentalliberalisierung" (Ulrich Herbert) thematisiert. Alfons Söllner behandelt den zentralen Einfluss von Ernst Fraenkel, Margrit Seckelmann die Tätigkeit von Fritz Morstein Marx, Corinna R. Unger die Wirkung von Arnold Brecht und Philipp Heß die Aktivitäten von Hans Simons. In sehr unterschiedlicher Weise haben alle vier die junge Demokratie der Bundesrepublik beeinflusst, die ersten beiden als dauerhafte Remigranten, die anderen über eine temporäre Rückkehr als US-Experten. Wie gegensätzlich traditionelle Kräfte und die Denkweise des Remigranten Theodor W. Adorno sich beim Aufbau der Bundeswehr auswirkten, weist Johannes Platz in seinem Beitrag nach, indem er an seinem Fallbeispiel den Konflikt zwischen zwei "Diskurskoalitionen" verdeutlicht.
Im vierten Teil geht es erneut um Alternativen zum westlichen Einfluss durch permanente und temporäre Remigration. Behandelt werden die Wiederbelebung politikwissenschaftlicher Konzepte durch Siegfried Landshut (Rainer Nicolaysen), die Nicht-Remigration und die Wiederkehr des Positivismus ("Er ist wieder da!", 259) eines Hans Kelsen (Matthias Jestaedt) sowie die Weiterentwicklung der Verwaltungslehre während einer "inneren Emigration" bei Hans Peters (Steffen Augsberg). In ihrem abschließenden Beitrag zieht Marita Krauss - anders als es die Kapitelüberschrift aussagt - keine "Bilanz", sondern weitet die "Perspektive" (277) auf remigrierte Politiker wie Max Brauer und Wilhelm Hoegner und Gastprofessoren. Darüber hinaus fordert sie für die zukünftige Forschung den Blick auf die "second generation" ein, der notwendig sei, um die längerfristige Wirkung nach einer "Inkubationszeit von 25 Jahren" (291) aufzuzeigen.
Der Band enthält insgesamt weiterführende und jeweils sehr kenntnisreiche Fallstudien. Es wäre zu billig, auf Fehlstellen in der Konzeption des Bandes hinzuweisen. Aber die letztlich sehr unterschiedlichen Beiträge stärker auf eine gemeinsame Fragestellung zu fokussieren, wäre die Aufgabe der Herausgeber gewesen.
Ewald Grothe