Lothar Schirmer (Hg.): Paul Cézanne, die Bilder seiner Ausstellung Paris 1907: besucht, betrachtet und beschrieben von Rainer Maria Rilke. Zusammengestellt und eingeleitet von Bettina Kaufmann, München: Schirmer / Mosel 2018, 198 S., 69 Farbabb., ISBN 978-3-8296-0821-3, EUR 39,80
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Rekonstruktionen von Ausstellungen sind - oftmals erstaunlich erfolgreiche - Versuche einer kunsthistorischen Kanonbildung. Wer würde sich schon die Mühe machen, eine Ausstellung, die vor langer Zeit stattgefunden hat, wiederaufleben zu lassen, hielte er oder sie diese nicht für epochal, ja bis in die Gegenwart hinein für relevant? So verlieh die Berlinische Galerie der Ersten Internationalen Dada-Messe (1920), der Ersten Russischen Kunstausstellung (1922), der Neuen Sachlichkeit (1925) und ZEN 49 (1950) das Prädikat "bedeutende Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland", als sie diese 1988 unter dem Motto "Stationen der Moderne" im Martin Gropius-Bau mit inszenatorischem Aufwand nachbauen ließ. [1] Im Jahr 2012 feierte das Wallraf-Richartz-Museum in Köln mit der Wiederkehr der Sonderbundausstellung von 1912 eine "Jahrhundertschau". [2] Und 2015 gedachte die Fondation Beyeler in Riehen der "letzten futuristischen Ausstellung der Malerei", indem sie den russischen Konstruktivisten und Suprematisten, die sich 1915 unter dem programmatischen Titel "0,10" in Petrograd versammelt hatten, ihre Reverenz erwies. [3]
Derartige Reinszenierungen machen Kunstgeschichte leibhaftig erfahrbar - wenn auch als Kulissenphänomene. Ausgeklammert bleibt die ästhetische Erfahrung, und damit die Frage, was einstmals Besucher einer Ausstellung, die inzwischen eine historische gewordene ist und selbst wie ein reproduzierbares 'Meisterwerk' rezipiert wird, in ihren Bann gezogen haben mag. Der Verleger Lothar Schirmer und die Kunsthistorikerin Bettina Kaufmann, die am neuen Cézanne-Werkverzeichnis mitwirkt, fühlen sich einer anderen Methode verpflichtet. Zur Ausstellungsrekonstruktion greifen sie auf das bewährte Format eines sorgfältig edierten Buches zurück. Auf 200 gedruckten Seiten ergründen sie die Hommage, die Paul Cézanne 1907 - ein Jahr nach seinem Tod - im Rahmen des Pariser Salon d'Automne zuteil wurde. Ausgerechnet von dieser folgenreichen Retrospektive, die Künstler wie Picasso, Matisse und Duchamp als wegweisend empfanden, sind keine Fotografien überliefert. Bettina Kaufmann ist es trotzdem gelungen, sich ein präzises Bild von der Abfolge der im Grand Palais präsentierten Werke zu verschaffen. Als Basis diente ihr eine dürre Broschüre, die 1907 anlässlich der Cézanne-Schau erschienen ist und die keinerlei Bildmaterial enthält. Verzeichnet sind darin 56 Werktitel. Lediglich 14 der erwähnten Ausstellungsstücke konnte Bettina Kaufmann nicht eindeutig identifizieren, da Cézanne für seine Motiv-Reihen stets gleichlautende Bildtitel wie "La Montagne Sainte-Victoire" oder "Paysage" verwendete. Dort, wo die Indizienkette abreißt, macht die Cézanne-Expertin - die Leihfreudigkeit von Sammlern wie Pellerin berücksichtigend - plausible Vorschläge. Zudem verweist sie auf einen Briefwechsel, aus dem hervorgeht, dass 1907 im Grand Palais ein weiteres Gemälde gehangen haben muss, das nicht aufgelistet ist, weil der Leihgeber - kein Geringerer als Claude Monet - es erst nach Drucklegung der Ausstellungsbroschüre einreichte.
Bettina Kaufmanns Forschungsergebnisse illustrierend sind im Buch nun 57 ganzseitige Farbabbildungen sukzessive aufeinander folgend angeordnet. Dieser Tafelteil lädt dazu ein, die Reihe der 57 Bilder Cézannes imaginär abzuschreiten, die 1907 als seine Hauptwerke galten und die bis heute besonders aussagefähig sind, weil sie das Atelier des Künstlers noch zu seinen Lebzeiten verlassen haben, mithin aus seiner Sicht nachweislich fertiggestellt waren. Es handelt sich um 25 Gemälde aus der Sammlung des Industriellen Auguste Pellerin, um fünf Gemälde und sieben Aquarelle, die sich im Besitz von Paul Cézanne fils, dem Sohn des Malers, befanden, um Leihgaben der Kunsthändler Bernheim-Jeune und Vollard sowie der Privatsammler Gangat, Boch und Aubry - und schließlich um das Bild "Le Nègre Scipion" (um 1867), das Monet zur Cézanne-Retrospektive beigesteuert hat.
Erfreulicherweise konzentrieren sich Lothar Schirmer und Bettina Kaufmann bei ihrer Rekonstruktion der Ausstellung nicht nur auf den Objektstatus der Exponate. Für ebenso wichtig halten sie die Echokammern der Rezeption. Daher erteilen sie dem Schriftsteller Rainer Maria Rilke das Wort, der die Cézanne-Ausstellung mehrfach aufsuchte und seiner Frau, der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff, in 31 Briefen - im Buch als Wiederabdruck zugänglich - ausführlich von seinen Beobachtungen und Überlegungen berichtete. Rilke, damals 32 Jahre alt und als Sekretär von Rodin in Paris tätig, nimmt angesichts von Cézannes "alle Einmischung in eine fremde Einheit ablehnenden Sachlichkeit" (48) Abschied vom Leitstern einer genialischen und selbstzerstörerischen Künstlerexistenz à la van Gogh. Seine schwärmerische Vorstellung von Cézannes beharrlichem, selbstgenügsamem Schaffen - zweifellos eine beflügelnde Projektion -, wird Rilke zum Vorbild: "Ich war heute wieder zwei Stunden vor einzelnen Bildern; mir ist das irgendwie nützlich, fühl ich [...]." (39) Sein Fazit lautet: "Ich bin auf dem Weg, ein Arbeiter zu werden [...]." (42) So bewundert Rilke neben Cézannes Farbauftrag, neben dem dicht wattierten Blau, dem schattenlosen Grün und dem rötlichen Schwarz, das ihn von Ferne an Tintoretto und Tizian erinnert, vor allem die "tägliche Arbeit" des Malers, "blindlings getan, willig, unter lauter Geduld [...]." (27)
Rilke verkörpert insofern den idealen modernen Kunstrezipienten, als es ihm weniger um den Nachvollzug der Intention des mit einer Ausstellung geehrten Künstlers geht als um die Wirkung, die die Ausstellung als ästhetischer, erzieherischer und sozialer Raum auf ihn und seine literarische Produktion entfaltet. Am Rande lässt er Clara Rilke-Westhoff wissen: "Das Buch von Malte Laurids, wenn es einmal geschrieben wird, wird nichts als das Buch dieser Einsicht sein." (50) Ebenso freimütig gibt er zu, die Cézanne-Retrospektive sei ein famoser Ort, um soziale Kontakte zu knüpfen. Im Grand Palais kamen, so ist den Briefen zu entnehmen, fast täglich Harry Graf Kessler, Julius Meier-Graefe, Karl Ernst Osthaus und Mathilde Vollmoeller zusammen, nicht nur, um sich Cézannes Bilder anzuschauen, sondern auch, um Gedanken auszutauschen und gemeinsam Pläne zu schmieden.
Lothar Schirmers und Bettina Kaufmanns Buch ist also weit mehr als eine verlegerische Glanzleistung oder die übliche akribische Rekonstruktion einer ephemeren Konstellation von Kunstwerken im Ausstellungsraum. Es erweitert den kunsthistorischen Kanon um rezeptionsästhetische und sozialgeschichtliche Ansätze, indem es die historischen und kulturellen Bedingungen der Wahrnehmung von Kunst offenlegt und die Ausstellung als ein "System von Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Positionen, mit denen auch intellektuelle und künstlerische Positionen verbunden sind" [4], zur Anschauung bringt.
Anmerkungen:
[1] Eberhard Roters / Bernhard Schulz (Hgg.): Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Ausst.Kat. Berlinische Galerie. Museum für moderne Kunst, Photographie und Architektur, Berlin 1988.
[2] Barbara Schaefer (Hg.): 1912 - Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes, Ausst.Kat. Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln 2012.
[3] Matthew Drutt / Sam Keller / Maria Tsantsanoglou / Matthias Wolf (Hgg.): Auf der Suche nach 0,10 - Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei, Ausst.Kat. Fondation Beyeler, Ostfildern 2015.
[4] Pierre Bourdieu: Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld (= Schriften zur Kultursoziologie; Bd. 4), Konstanz 2011, 120.
Annette Tietenberg