Dietrich Boschung / François Queyrel (Hgg.): Bilder der Macht. Das griechische Porträt und seine Verwendung in der antiken Welt (= Morphomata; Bd. 34), München: Wilhelm Fink 2017, 470 S., 19 Farb-, 120 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-6126-1, EUR 69,00
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Band 34 des Internationalen Kollegs Morphomata (Tagung Paris 2014) ist der Frage gewidmet, wie die griechische Erfindung des individualisierenden Porträts auf andere Kulturen der antiken Welt Einfluss genommen hat. Neben der Mittelmeerwelt steht dabei vor allem der Orient von der Arabischen Halbinsel über Zentralasien bis nach China im Fokus. Der nicht ganz neuen Frage nach der Hellenisierung des Ostens wird dabei anhand der unterschiedlichen Medien nachgegangen, in denen Porträts zum Einsatz kamen. Überdies orientiert sich die Publikation an Grundtendenzen der jüngeren Forschung, die Bildnisse bevorzugt vor dem Hintergrund ihrer "sozialgeschichtlichen Zusammenhänge" und "topographischen Kontexte" (8) zu beleuchten.
Im ersten Abschnitt geht es um eine Bestimmung der (statuarischen) Bildnispraxis in Griechenland selbst, von der Archaik bis zum Hellenismus. Christiane Vorster plädiert in diesem Zusammenhang für eine kritische Revision der Überlieferung. Die römische Rezeption griechischer Porträts habe zum einen den Blick darauf verstellt, wie weit das Pendant zum modernen französischen Begriff bei den Griechen eigentlich gefasst war: In das Spektrum seien auch unterschiedlich stark idealisierte Bildnisse wie die archaischen Koren und Kouroi, später Athleten, Frauen und Kinder, letztlich auch Darstellungen auf Grabreliefs einzubeziehen. Zum anderen habe sie in ihrer bevorzugten Konzentration auf marmorne Köpfe davon abgelenkt, dass die griechischen Porträts ursprünglich vor allem in Form besonders lebensechter Bronzestatuen und Gemälde präsent waren. Während ihr Blick im Wesentlichen auf die nur bedingt verallgemeinerbare Überlieferung für Athen gerichtet ist, greift der Beitrag von John Ma weiter aus, indem er den gesamten Ägäisraum behandelt und zudem alle Komponenten der Porträtdenkmäler zueinander in Bezug setzt. Die genuin politische Funktion der Bildnisse offenbare sich insbesondere in den Inschriften, die den Dargestellten, egal ob dem Denkmal eine öffentliche oder private Stiftung zugrunde liegt, stets in ein soziales Beziehungsgeflecht einordneten und ihm eine bestimmte, an der Gemeinschaft orientierte Rolle zuwiesen. Insofern folgert er am Ende zu Recht, dass die Bildnisse selbst niemals den Anspruch erheben konnten, die eigentliche Identität einer Person zu vermitteln, sondern nur ein zugespitztes Image.
Es folgt ein Block von Beiträgen zu ausgewählten Kulturen des Mittelmeerraumes: Gabriele Koiner zeichnet für das vorhellenistische Zypern ein sehr disparates Bild. Die in viele (Stadt-) Königtümer zerfallende Insel bezieht Einflüsse nicht nur aus Griechenland, sondern vor allem auch aus Kleinasien, Mesopotamien, der Levante und Ägypten. Individualisierende Merkmale halten generell kaum - jedenfalls nicht vor dem 4. Jahrhundert v.Chr. - Einzug in die rundplastischen Bildnisse von Frauen und Männern aus den durchweg sakralen Kontexten von Grab und Heiligtum. Die Repräsentation der Hekatomniden in Karien orientiert sich dagegen hinsichtlich Kleidung und Körperauffassung sehr eng an griechischen Vorbildern und verzichtet dabei weitgehend auf Herrscherattribute, geht aber insbesondere bezüglich der Haartrachten eigene Wege. Olivier Henry führt derlei Abweichungen auf indigene Wurzeln zurück; dabei kommen die archaisch anmutenden 'Schneckenlocken' (z.B. Frauenköpfe aus Priene) vereinzelt auch auf Zypern und andernorts vor. Schließlich verortet er den Schwerpunkt herrscherlicher Repräsentation eher in der Baupolitik der Hekatomniden, denen es mit unkonventionellen Architekturen an neuralgischen Punkten gelänge, ihre Dynastie stets ins Zentrum zu rücken. Ausgehend von dem erst 2004 in Zusammenhang mit seinem Grab entdeckten frühhellenistischen Porträtkopf des Thrakerkönigs Seuthes III. analysiert Vincenzo Saladino den allzeit wohl dosierten Einsatz von Realismen in der griechischen Porträtkunst seit ihren Anfängen. Dieser Frage geht er weiter nach, indem er sich der wechselhaften Herrscherrepräsentation auf kleinasiatischen Münzen unter der Ägide der Perserkönige zuwendet. Dabei gelangt er zu dem Ergebnis, dass Realismen dort vor allem dann zum Einsatz kommen, wenn neue Throninhaber versuchen, eine eigene Dynastie zu etablieren.
Massimiliano Papini fasst in seinem Beitrag die Ergebnisse seiner Doktorarbeit [1] zusammen, ergänzt um eine Reihe von Epilogen: Individualisierende Merkmale begegnen in der etruskischen Grabkunst demnach nicht vor dem 4. Jahrhundert v.Chr. Jenseits der schriftlichen Quellen zu Ehrenstatuen in Rom gibt es in Mittelitalien eine reiche Überlieferung an Votivstatuen und -köpfen aus Terrakotta. Diese greifen einzelne Elemente zeitgenössischer Porträts aus Griechenland auf (z.B. Anastolé Alexanders), bleiben aber beim Einsatz individualisierender Merkmale bis auf wenige Ausnahmen (Arezzo, Rom und Umgebung) sehr zurückhaltend, sodass grundsätzlich nicht von einer Wiedererkennbarkeit der Dargestellten auszugehen ist. Auf eine Vermittlung über Händler aus Mittelitalien führt Carmen Marcks-Jacobs die wenigen Beispiele iberischer Rundplastik im SO Spaniens zurück, die griechischen Einfluss aufweisen. Gerade einmal vier hellenistische Statuen (2./1. Jahrhundert v.Chr.) aus dem Heiligtum von Cerro de los Santos - das jedoch ca. 50% aller Rundplastik auf der Iberischen Halbinsel hervorgebracht hat [2] - stellen Männer im Himation (Typus Kos) dar, die jedoch einheimische Halsringe und Armreifen als zusätzliche Zeichen eines gehobenen Status tragen. Aufgrund der separat gefundenen Köpfe ist allerdings nicht von einer individualisierenden Auffassung der Gesichter auszugehen.
Im zentralen Abschnitt zum Orient behandeln gleich vier Beiträge die Überlieferung in Mittelasien, die sich im Wesentlichen auf Münzen mit Herrscherdarstellungen stützen. Unter der hellenistischen Kleinkunst Baktriens stechen zwei Porträtköpfe aus vergoldetem Ton mit Diadem hervor, die neben anderen im Tempel des Flussgottes Oxus (Takhti Sangin, Tadschikistan) gefunden wurden. Kazim Abduallaev bringt sie mit einer unweit gefundenen Inschrift in Zusammenhang, die eine Eloge auf Euthydemos und seinen Sohn Demetrios, zwei schillernde Herrschergestalten mit Wurzeln in Kleinasien, enthält. Außerdem gäbe es diverse Anzeichen für eine lang anhaltende Nachwirkung Alexanders d. Gr. in der Bildniskunst der Region. Osmund Bopearachchi zeichnet komplementär die Entwicklung der Münzporträts griechischer Könige in Baktrien bzw. Teilen Indiens nach. Hinsichtlich der Dynamik von Angleichung und Kontrast in den Porträtdarstellungen auf den Vorderseiten sowie des programmatischen Einsatzes von Götterfiguren auf den Rückseiten unterscheiden sich die Münzen nicht grundsätzlich von den Emissionen anderer hellenistischer Reiche. Immer wiederkehrendes Thema ist jedoch der Triumph über die indischen Kriegselefanten seit Alexanders Sieg gegen Poros 326 v.Chr. Bei den Partherkönigen erkennt Antonio Invernizzi erst unter Mithridates I. (Eroberung von Seleukeia am Tigris 141 v.Chr.) eine stärkere Orientierung an griechischen Vorbildern. Das gelte nicht nur für die Münzporträts, sondern auch für einen monumentalen Porträtkopf aus Ton, der im Rundsaal der Residenz von Nisa gefunden wurde. Um die Jahrhundertwende entwickle die parthische Porträtkunst dann aber endgültig einen eigenen Stil unter weitgehendem Verzicht auf individualisierende Merkmale (z.B. Bronzestatue aus Shami). In der parthischen Spätzeit des 2. und 3. Jahrhunderts n.Chr. fällt das soziale Spektrum an Porträts deutlich größer aus (neben Königen auch andere Notabeln, Priester etc., männlich wie weiblich), wobei jedoch kein sonderlicher Wert auf eine organische Wiedergabe der Gesichter gelegt werde. Frantz Grenet tendiert zu einem ähnlichen Ergebnis wie Vincenzo Saladino. Mit Heraios, dem ersten Kuschan-Herrscher im indo-baktrischen Raum, kommt es zu einem radikalen Traditionsbruch, indem er in den Porträts seine ethnische Fremdheit hervorheben lässt: Er trägt keinen Kinnbart, aber dafür einen betont langen Schnäuzer; die Verjüngung des Kopfes nach oben deutet auf eine künstliche Deformation, wie sie später Kennzeichen der Hephtaliten wird. Solche Bildnisstrategien ("réalisme ethnique de rupture") begegnen Grenets Auffassung nach immer wieder im Verlauf der Kuschan-Herrschaft, auch nach dem 200 Jahre andauernden Intermezzo der Sassaniden.
Rubina Raja liefert eine zusammenfassende Auswertung der in der Datenbank des Palmyra Portrait Project erfassten Porträts aus Grabzusammenhängen. Trotz der häufigen Übernahme von griechischen Trachtbestandteilen postuliert sie eine ausgeprägte Eigenständigkeit hinsichtlich Zuschnitt und Ikonografie. Bei aller Unterschiedlichkeit der Gesichter könne allerdings nicht von Individualisierungen gesprochen werden, da eine Identifizierung der Personen nur über die Namensbeischriften möglich gewesen sei. Noch deutlicher trifft das auf die 'sabäische' Grabplastik im Süden der Arabischen Halbinsel zu. Iris Gerlach kann in der Awam-Nekropole von Marib einfach in die Grabfassaden geritzte Köpfe von aufwendigeren aus Kalzitsinter unterscheiden, die in eigene Grabstelen integriert waren. Erst mit dem engeren Anschluss an die Mittelmeerwelt um die Zeitenwende kamen kleinformatige Ganzkörperdarstellungen aus Bronze (bürgerliche Eliten) und Kalzitsinter (Könige) auf, die partiell auch griechische Trachtbestandteile aufweisen. Die berühmten Bronzestatuen des Königs Damarali Yuhabirr und seines Sohnes Taran aus dem 2./3. Jahrhundert n.Chr., die mit ihrer Nacktheit in unmittelbarer Tradition griechisch-römischer Herrscherbildnisse stehen, bleiben jedoch singulär.
Lothar von Falkenhausen zeigt schließlich auf, wie selten menschliche Darstellungen in der frühen chinesischen Kunst sind. Insbesondere die gehäuft vorkommenden Figuren von Dienern und Untertanen führen anschaulich vor Augen, dass an einer individuellen Charakterisierung des Menschen im Bilde gar kein Interesse bestand. Für die Kaiser galt sogar, dass man ihre Erscheinung in der Öffentlichkeit absichtlich im Verborgenen hielt.
Die abschließenden Beiträge der Herausgeber beleuchten von zwei Seiten die Schnittstelle zwischen griechischem und römischem Porträt: François Queyrel schaut auf die späthellenistische Genese von Porträtdenkmälern für Römer / Italiker im griechischen Osten (realistische Köpfe auf idealen Körpern), während Dietrich Boschung die Adaption griechischer Elemente in Politikerbildnissen des spätrepublikanischen Rom untersucht (Realismen ergeben sich aus dem damaligen politischen Konkurrenzkampf, nicht aus der Abformung von Totenmasken).
Was der Publikation am meisten fehlt, ist eine abschließende synoptische Auswertung, die durch die Zusammenfassung der Beiträge in der Einleitung nicht hinreichend geleistet wird. Ansatzpunkte zu einer systematischen Betrachtung hätte es dabei reichlich gegeben: Zum einen die unterschiedlichen Grade, Funktionen und Bedeutungsebenen von individualisierenden bzw. realistischen Gesichtszügen in verschiedenen Medien und Kulturen; zum anderen eine Übersicht über die kulturspezifischen Erfordernisse und strategischen Ansätze von Herrscherrepräsentation, insbesondere hinsichtlich der Personalisierung von Bildnissen. So stellt der Sammelband in erster Linie weitere Grundlagen für künftige Studien dieser Art bereit.
Anmerkungen:
[1] Massimiliano Papini: Antichi volti della Repubblica. La ritrattistica in Italia centrale tra IV e II secolo a. C., Rom 2004.
[2] S. dazu ausführlicher: Carmen Marcks: Formen statuarischer Repräsentation von Privatpersonen in Hispanien zur Zeit der Republik und in der Kaiserzeit, Diss. Universität zu Köln 2005.
Jochen Griesbach