Bärbel Kuhn / Astrid Windus (Hgg.): Geschlechterkonstruktionen. Gender im Geschichtsunterricht (= HISTORICA ET DIDACTICA. Fortbildung Geschichte; Bd. 9), St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2017, 155 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-86110-644-9, EUR 24,80
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Historische Prozesse mit der kulturellen und gesellschaftlichen Konstruktion von geschlechtlicher Identität, geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Geschlechterbeziehungen zu verbinden, birgt die Chance, an die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern anzuknüpfen. Die Erkenntnis, dass diese Identitäten und Strukturen keine universale Bedeutung beanspruchen können und wandelbar waren, kann zu einem offenen Umgang auch mit aktuellen Geschlechtermodellen führen.
Zwar ist Gender als soziokulturelle Kategorie in Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik "angekommen", doch ist dies im schulischen Alltag noch nicht wirklich umgesetzt, lautet der Befund der Herausgeberinnen Bärbel Kuhn und Astrid Windus. Geschlechtsvorstellungen seien eng mit der eigenen Identität und persönlichen Wertvorstellungen verbunden, was eine sachliche Auseinandersetzung erschwere. Zudem fehle es an geeigneten Konzepten und Materialien für den Geschichtsunterricht, was durch den vorliegenden Band behoben werden soll.
In ihrem Einführungsbeitrag zeichnen Kuhn und Windus den Weg der geschichtswissenschaftlichen Forschung von der Frauengeschichte über die Geschlechtergeschichte hin zu den Queer und Transgender Studies nach, die ein dichotomes Geschlechtermodell grundlegend in Frage stellen. Keineswegs also kann es heute noch um die Weiterführung einer ergänzenden "Frauengeschichte" im Geschichtsunterricht gehen. Da die Vergangenheit von Frauen nicht weniger komplex ist als die von Männern, fordern die Herausgeberinnen im Rahmen eines geschlechtergeschichtlich ausgerichteten Geschichtsunterrichts einen multiperspektivischen Zugriff, wobei neben dem Geschlecht weitere Kategorien zu berücksichtigen und damit zu verschränken sind. Mit Bezugnahme auf Judith Butler verweisen sie auf Handlungsspielräume von Individuen, die diese bei der Herstellung von Genderkonstruktionen hatten und haben, was sowohl in Bezug auf Weiblichkeit(en), als auch auf Männlichkeit(en) zu verstehen ist. In ihrer knappen, doch instruktiven und damit auch für Einsteiger geeigneten Einleitung kritisieren sie die vermeintlich geschlechtsfreie Behandlung einer vorherrschenden Männergruppe und ihrer kulturellen Codes, was die Untersuchung männerspezifischer Verhaltensweisen verhinderte und die Ausgrenzung nicht normgerechter Männergruppen in der Forschung nach sich zog.
Damit geben Kuhn und Windus das didaktische Konzept ihrer Publikation vor, dem neunten Band einer Reihe, die sich die Aufgabe gestellt hat, an ausgewählten Sachthemen praxisbezogene Unterrichtsvorschläge für den Geschichtsunterricht zu entwickeln. So wird auch hier das bewährte Konzept eines zweigeteilten Aufbaus fortgesetzt, bei dem sechs vorangestellten, geschichtswissenschaftlichen Beiträgen entsprechende Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung folgen, die inhaltlich eng verzahnt sind.
Jeder historischen Einführung, alle durchweg konzise geschrieben und auf dem aktuellen Forschungsstand der historischen Geschlechterforschung, folgt eine große Bandbreite an größtenteils bislang unveröffentlichten Text- und Bildquellen. Deren Analyse und Interpretation bieten eine geeignete Grundlage für den Einsatz im Geschichtsunterricht. Die darauf aufbauenden unterrichtspraktischen Beiträge sind einheitlich gegliedert in einen inhaltlichen und einen methodisch-didaktischen Kommentar sowie in konkrete, generell eingängige und praktikable Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung.
Sabine Lang eröffnet den ersten Teil des Bandes mit ihrem fachwissenschaftlichen Beitrag über "Nichtdualistische Konzepte von Gender und Sexualität in indigenen Kulturen", was Daniel Groth im zweiten Teil in einem unterrichtspraktischen Vorschlag ausarbeitet. Dabei sind Alteritätserfahrung und Fremdverstehen die leitenden didaktischen Prinzipien. Im Fokus steht die Erkenntnis, dass Zweigeschlechtlichkeit nicht alternativlos ist, sondern dass geschlechtliche Identitäten geschichtlich veränderbar sind und hergestellt werden (können). In indigenen Kulturen konnten Frauen als sogenannte "Mannfrauen" dem männlichen Geschlecht zugeordnete Verhaltensweisen annehmen, wie umgekehrt Männer als "Fraumänner". Die Beziehung zu einem "biologischen Mann" war gesellschaftlich anerkannt. Erst negative Einstellungen der Kolonisatoren führten dazu, dass indigene Bevölkerungsgruppen einen Geschlechterwandel ablehnten und gleichgeschlechtliche Ehen 2006 verboten, die wiederum seit 2015 nach staatlicher Rechtsprechung in den USA legal sind.
Claudia Kraft widmet ihren Beitrag der universalen Bedeutung von Menschenrechten und fordert deren geschlechtergeschichtliche Historisierung im jeweiligen politischen Kontext von Nationalstaatsbildung, Ost-Westkonflikt und antikolonialen Befreiungsbewegungen. Die klug gewählten Quellen für den Unterricht machen deutlich, dass die Formulierung von Menschenrechten kein sich geradlinig entwickelnder Fortschrittsprozess war, sondern von politisch bestimmten Interessen geprägt wurde, woran der unterrichtspraktische Beitrag von Matthias Weipert anknüpft.
Kerstin Wolff und Helke Dreier behandeln Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechterbeziehungen in Friedens- und Kriegszeiten und machen deutlich, wie solche geschlechtlich markierten Zuschreibungen je nach gesellschaftlicher und politischer Erfordernis angepasst wurden. Dabei eröffnen sie durchaus neue Perspektiven auf ein altbewährtes Thema der historischen Geschlechterforschung, was Kuhn und Windus in ihrem Unterrichtsvorschlag klug weiterentwickeln.
Sylvia Schraut zeichnet die politischen Forderungen und taktischen Vorgehensweisen von Frauenrechtlerinnen im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland und Österreich nach. Obwohl ausgeschlossen von der politischen Teilhabe ließen sich Aktivistinnen in ein nationales Projekt einspannen. Sie zeigten sich als "gute Patriotinnen", um dadurch den Beweis zu erbringen, dass der Staat auch die Unterstützung der Bürgerinnen benötige. Der Unterrichtsvorschlag von Katharina Daxer greift dieses Thema auf und bettet es in den Kontext "Nationalstaat und deutsche Identität" ein.
Wünschenswert wäre es, zukünftig noch stärker Ergebnisse der historischen Männer- und Männlichkeitsforschung für den Geschichtsunterricht fruchtbar zu machen. Ein Artikel, der sich hierauf bezieht, ist der von Rita Schäfer über "Männer als Minenarbeiter in Südafrika". Hier hätte noch stärker Bezug genommen werden können auf das Konzept der hegemonialen (weißen) Männlichkeit, die definierte, was als männlich zu gelten hatte. André Hoffmann und Matthias Opitz zeigen in ihrem konzise erarbeiteten Unterrichtsvorschlag, wie die verschiedenen Männergruppen zwar gleichermaßen von der Geschlechter-Hierarchie profitierten, sie gleichwohl durch das Ineinandergreifen von Frauendiskriminierung und Rassismus anders betroffen waren: Die schwarzen Wanderarbeiter erfuhren durch die Vorherrschaft von weißen Männern eine physische und psychische "Entmännlichung".
Ohne hier alle Beiträge vorstellen zu können, kann konstatiert werden, dass mit den inhaltlich wie geografisch breitgefächerten Artikeln Lehrkräften Konzepte, Darstellungen und Quellen an die Hand gegeben werden, mit denen Geschlecht als historische Kategorie in lehrplankonforme Themenstellungen eingebunden werden kann, zudem erweitert durch eine außereuropäische Perspektive. Insbesondere die genaue Verzahnung zwischen den Sachbeiträgen, den erläuterten Quellen und den durchdachten Unterrichtsvorschlägen macht den besonderen Wert der Veröffentlichung aus. Der Band ist eine kluge, unmittelbar unterrichtsbezogene Weiterführung der seit Beginn des Jahrtausends geführten Diskussion über Gender in der Geschichtsdidaktik.
Nadja Bennewitz