Ulrich Keller: Schuldfragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914. Mit einem Vorwort von Gerd Krumeich, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 435 S., 56 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78744-6, EUR 44,90
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Stellungnahme von Gerd Krumeich mit einer Replik von Ulrich Wyrwa
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Als die deutsche Reichsleitung in enger Abstimmung mit Österreich-Ungarn im Sommer 1914 seinen Nachbarn im Osten und Westen den Krieg erklärt hatte, sah der Plan der deutschen Heeresleitung vor, zunächst Frankreich in einem kurzen Feldzug zu schlagen, um daraufhin alle Kräfte zum schnellen Sieg über Russland frei zu haben. Frankreich sollte dabei von der ungeschützten Nordgrenze her angegriffen werden, so dass das deutsche Heer durch das neutrale Belgien marschieren musste. Die Oberste Heeresleitung konnte sich nicht vorstellen, dass sich ein kleines Land wie Belgien dem deutschen Durchmarsch widersetzen könnte. Tatsächlich aber leistete Belgien energischen Widerstand. Dass damit der auf dem Reißbrett so schön ausgedachte strategisch-operative Plan durchkreuzt war, hat die deutsche Heeresleitung völlig überrascht und die in Belgien einmarschierenden Soldaten hoffnungslos überfordert. Auf Widerstand waren sie nicht eingerichtet. Die deutsche Armee führte daher einen Kampf mit äußerster Härte, dem über sechstausend Zivilisten zum Opfer fielen.
An dieses historische Grundwissen muss hier eingangs erinnert werden, denn der zuvor als Kunst- und Fotohistoriker hervorgetretene Ulrich Keller hat dieses Kapitel der deutschen Geschichte erneut aufgegriffen. Es geht ihm dabei um die Frage, wer Schuld an dem, was er den "belgischen August" nennt, hatte, und der Untertitel macht deutlich, wo für Keller die Priorität liegt: In dem von ihm so genannten belgischen Untergrundkrieg.
Als Fotohistoriker hatte Keller über den Ersten Weltkrieg gearbeitet. Dabei ist er im Bundesarchiv auf einen umfangreichen Bestand mit Aussagen von deutschen Soldaten aus dem besetzten Belgien gestoßen. Diese hatten immer wieder davon gesprochen, dass sie von belgischen Zivilisten angegriffen worden seien und daher gezwungen waren, sich zu verteidigen. Diese Aussagen haben Keller ganz in seinen Bann geschlagen, so sehr, dass er die umfangreiche neuere Literatur zur deutschen Besatzung, wie er in seinem einleitenden Kapitel unmissverständlich deutlich macht, als befangen, voreingenommen und unwissenschaftlich verdammt. Nur ein einziges Mal, so betont er nachdrücklich, seien diese Quellen "einer gründlichen wissenschaftlichen Untersuchung gewürdigt worden" (21): In der 1931 erschienenen Schrift des Historikers und Archivars Robert Oszwald. Dass der völkische und nationalsozialistische Historiker Oszwald seit 1917 in der politischen Abteilung des Generalgouvernements in Brüssel tätig war und versucht hat, die flämische Bewegung zu nutzen, um den belgischen föderalen Staat zu zerschlagen, verschweigt Keller.
Publikationen, die sich kritisch mit der deutschen Besatzungspolitik auseinandersetzen, überzieht Keller hingegen mit scharfer Polemik und wirft ihnen "krasse methodologische Inkonsequenz" vor. (25) Seine Aversion richtet sich insbesondere gegen die umfangreiche, 2001 erschienene grundlegende Untersuchung der irischen Historiker John Horne und Alan Kramer "Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit".
In den folgenden Kapiteln geht Keller vier Stationen der deutschen Besatzungspolitik durch: erstens die Verwüstung und Plünderung der Stadt Löwen, bei der etwa 200 Zivilisten ermordet, ganze Straßenzüge dem Erdboden gleichgemacht und die Universitätsbibliothek zerstört wurden. Zweitens behandelt er die von der deutschen Armee als "Handstreich auf Lüttich" geplante Eroberung der Stadt, drittens den von der deutschen Armee niedergebrannten Ort Andenne und viertens das Massaker, das die deutsche Armee in dem kleinen, 6.000 Einwohner zählenden Ort Dinant an der belgisch-französischen Grenze angerichtet hat und dem 600 Zivilisten zum Opfer fielen.
In der ereignisgeschichtlichen Rekonstruktion dieser vier Episoden zitiert Keller ausführlich aus den Zeugenaussagen der deutschen Soldaten, die immer wieder betonten, dass sie von belgischen Zivilisten angegriffen worden seien und folglich gezwungen waren, Vergeltung zu üben.
Bezeichnend ist in diesen Kapiteln nicht zuletzt Kellers Sprache. Als die deutsche Armee Löwen besetzt hatte, war die Stadt, so schreibt er, "noch in völlig friedlicher Atmosphäre". (67) Und der verantwortliche General für "die Einäscherung von Häusern" in Löwen habe es, wie Keller aus deutschen Quellen zitiert, "mit der Rechtlichkeit seiner Anordnungen sehr genau" genommen. (98)
Die Besetzung von Lüttich bezeichnet Keller als einen "bemerkenswert friedlichen Invasionsauftakt" (102). Zum Einmarsch der deutschen Armee in Herstal, eine Gemeinde in der Provinz Lüttich, schreibt er: "Hier waren die deutschen Soldaten die Gejagten, Getöteten und Gefangenen". (121) Ferner betont er, dass das Handeln der deutschen Militärführung allein von "disziplinierter und zweckorientierter Stabsarbeit" geleitet gewesen sei. (125) Als die deutsche Armee in Andenne einmarschiert war, deutete nach Keller "nichts auf irgendwelche Spannungen" hin. (136) Und am Verhalten einer deutschen Einheit in Dinant erscheint Keller vor allem bemerkenswert, dass sie "nicht blind wütete, sondern sich die Zeit nahm, ihre Vergeltungsaktionen [...] zu rechtfertigen". (189) Die Erschießung einer Gruppe von über hundert Einwohnern von Dinant schildert Keller mit den folgenden Worten: Ein "Trompetenstoß erklang, zwei Salven und mehrere Gnadenschüsse folgten". (201)
Im anschließenden Kapitel geht Keller der Organisation des Widerstands nach. Wiederum ist seine Wortwahl aufschlussreich. So etwa, wenn er schreibt, dass mit der Aktivierung der ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung "urplötzlich und auf geradezu unverantwortliche Weise eine riesige Streitmacht geschaffen" worden sei. (221) Verantwortlich für den "hohen Blutzoll unter der Zivilbevölkerung" war, so macht Keller unmissverständlich klar, die "belgische Kampftaktik"; (231) schließlich war die deutsche Armee angehalten, "sich in Belgien anständig zu benehmen". (247)
Da das Schlagwort vom Franktireur als Partisan und Guerilla-Kämpfer erstmals im Deutsch-französischen Krieg von 1870/71 geprägt worden ist, fügt Keller ein rekapitulierendes Kapitel über diesen Krieg ein. Daraufhin geht er den rechtlichen Hintergründen nach, vor allem der Haager Landkriegsordnung von 1907, wobei ihn insbesondere interessiert, inwiefern der belgische Widerstand gegen das Völkerrecht verstoßen habe. Sein apodiktisches Urteil über den belgischen Widerstand ist klar: "praktisch der ganze belgische Freischärler- und Zivilwiderstand [verstieß] gegen das Völkerrecht"; (279) eine Argumentation, die schon 1915 das deutsche Auswärtige Amt in einer Dokumentation eingeschlagen hatte. Diese, später 'Weißbuch' genannte Publikation wird von Keller als "eine respektable Leistung" (296) gewürdigt, die eine korrekte Darstellung der Geschehnisse gegeben habe.
In seinem letzten Kapitel rekapituliert Keller die nun seit einem Jahrhundert anhaltenden Debatten um die deutsche Besetzung Belgiens und die Massaker der deutschen Soldaten an der belgischen Zivilbevölkerung. Die 1917 erschienene belgische Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlers Fernand von Langenhove, der der sozialpsychologischen Dynamik von Gerüchten nachgegangen ist, bezeichnet er als "tautologische Fehlkonstruktion". Überhaupt ist der "sozialpsychologische Ansatz" für Keller eine "logische Unsinnigkeit". (302) Zu Marc Blochs beeindruckenden Reflektionen über diese Studie fügt er lediglich in der Anmerkung an, dass er auf sie bewusst nicht eingehe, denn es "besteht kein Grund, diese verfehlte Praxis [die Aussagen der deutschen Soldaten als Falschmeldung abzutun] mit dem Namen Blochs [zu] schmücken". (407)
Gelten lässt Keller allein die frühen deutschen Abhandlungen und die deutschen Quelleneditionen mit Aussagen deutscher Soldaten. Andere Dokumente sowie alle späteren historischen Forschungen sind in seinen Augen unwissenschaftlich, unseriös und allein interessengeleitet. So auch die 1958 von deutschen und belgischen Historikern gemeinsam verabschiedete Erklärung, die nach langen Jahren der gegenseitigen Schuldzuweisungen die Beziehungen zwischen Belgien und Deutschland bereinigt hatte. Sie wird von Keller forsch als Dokument einer "politisch korrekten Geschichtsschreibung" hinweggewischt. Beigefügt war dieser Erklärung eine Studie des deutschen Historikers Peter Schöller über die Verwüstung von Löwen, der Keller eine vollends unsinnige Argumentation attestiert (321) und die er als "Potpouri von Bagatellfragen" abtut. (322)
Dass Keller auf kritische Forschungen lediglich polemisch reagiert, zeigt sich erneut am Ende dieses Kapitels, wenn er schreibt, dass die "Perlenkette unhaltbarer Forschungsthesen [...] mit dem Fall Schöller" - der Historiker ist nurmehr ein Fall - "noch nicht zum Abschluss gekommen" sei. (323) So fährt Keller fort und zieht über "Die Fälle Alff und Wieland" (324) her. Der Historiker Wilhelm Alff hatte 1976 in einem Aufsatz auf eine frühe Edition von Tagebüchern belgischer Journalisten über die Zeit der deutschen Besetzung aufmerksam gemacht, die Keller als "irrelevante Reportagekollektion" bezeichnet. Lothar Wieland machte in seiner grundlegenden, von Alff betreuten Dissertation nach Keller, "den folgenschweren Fehler", dass er die Aussagen der deutschen Soldaten nicht herangezogen habe. Folglich sei Wieland "ständig einem eklatanten logischen Fehlschluss [...] erlegen". (325)
Der Furor, mit dem Keller über alle geschichtswissenschaftlichen Studien zur deutschen Besatzung in Belgien herzieht und ihnen methodische Mängel, unzureichende Quellenkritik oder logische Fehlschlüsse vorwirft, schlägt am Ende aber auf Keller selbst zurück, denn im Umgang mit seinen Quellen, den Aussagen von deutschen Soldaten aus dem besetzten Belgien, findet sich nicht die Spur von Quellenkritik; er nimmt sie, schließlich handelt es sich um beeidigte Aussagen, als unumstößliche Wahrheit. So mangelt es Keller an den Grundlagen historischer Urteilskraft, und sein Versuch, die deutsche Armee von Schuld reinzuwaschen, ist gründlich fehlgeschlagen.
Unverständlich bleibt nur, wie ein solches Buch in einem seriösen Verlag erscheinen konnte. Noch unverständlicher schließlich ist, dass ein so anerkannter Historiker wie Gerd Krumeich, der wie kaum ein anderer deutscher Historiker sich um die Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs verdient gemacht hat, zu diesem Buch ein Vorwort hat schreiben können.
Ulrich Wyrwa