Clemens Escher: "Deutschland, Deutschland, Du mein Alles!". Die Deutschen auf der Suche nach ihrer Nationalhymne 1949-1952, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 364 S., 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78715-6, EUR 39,90
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Was verbindet die Nationalhymne mit dem Siebengebirge? Die Frage ist nicht so abwegig wie es zunächst scheint. Den Umschlag dieses Buches ziert nämlich kein musikalisches Motiv, auch keine politische Karikatur zur Hymnenfrage, sondern eine knallbunte Drachenfels-Postkarte von 1960, betitelt als "Die Perle des Rheins". Clemens Escher lüftet das Geheimnis erst im hinteren Teil seiner Darstellung, wo er auf die verkitschte Rheinromantik verweist, die in den selbst gedichteten Hymnenvorschlägen aus der Bevölkerung eine gewisse Rolle spielt. Später in der Bonner Republik erfreute sich der Siegfried-Rummel am Drachenfels großer Beliebtheit, "vielleicht nicht an Werktagen, aber doch am Wochenende" (218).
Die markante Burgruine thront auch über dem Rhöndorfer Wohnhaus Konrad Adenauers, der inzwischen selbst zum Mythenhaushalt der Bundesrepublik gehört. In den ersten Jahren nach ihrer Gründung litt die westdeutsche Demokratie jedoch unter einem Mangel an nationaler Sinnstiftung, nicht zuletzt im Bereich staatlicher Symbolik. Zwar hatte der Parlamentarische Rat über die Bundesflagge entschieden; eine Leerstelle blieb aber das ungelöste Problem der Nationalhymne, über das leidenschaftlich diskutiert wurde. Auf wenig Gegenliebe stieß die von Bundespräsident Theodor Heuss initiierte Neukomposition "Land des Glaubens, deutsches Land". In der Gunst der Bevölkerung konnte sie zu keinem Zeitpunkt konkurrieren mit dem weiterhin populären Deutschlandlied Hoffmann von Fallerslebens, dessen berühmt-berüchtigte erste Strophe in der NS-Zeit stets vor dem Horst-Wessel-Lied angestimmt worden war. 1952 schließlich fügte sich Heuss dieser Mehrheitsstimmung ebenso wie dem politischen Willen Adenauers. Daraufhin wurde das "Lied der Deutschen" zur Nationalhymne der Bundesrepublik erklärt, obgleich bei öffentlichen Anlässen nur die dritte Strophe gesungen werden sollte.
An der politischen Auseinandersetzung über die Hymnenfrage, leicht spöttisch als "Bonner Dramolett" (68) tituliert, ist Escher aber nicht vorrangig interessiert. Vielmehr nähert er sich dem Thema aus alltagsgeschichtlicher Perspektive und legt seine Studie als "Beitrag zur Gründungsgeschichte der Bundesrepublik von unten" (18) an. Als Grundstock hierfür dienen ihm die etwa 2000 Hymnenvorschläge, die unaufgefordert im Bundespräsidial- und Bundeskanzleramt, im Bundesinnenministerium und beim Deutschen Bundestag eingegangen sind. Methodisch versteht sich die Studie als Verknüpfung einer "Kulturgeschichte der Politik", die auf Symbole, Rituale und Mythen rekurriert, mit der aktuell florierenden Geschichte der Emotionen, welche die Gefühlslandschaften historischer Akteure erkunden möchte (22). Escher hat daher klugerweise keinen quantitativ-statistischen Ansatz gewählt, sondern folgt einer "klassisch-hermeneutischen Methode der interpretierenden Inhaltsanalyse" (23) mit vielen aussagekräftigen Quellenzitaten. Da sich die Kapitelstruktur auch erkennbar aus den Themen und Topoi ableitet, die dem Material entnommen werden können, löst die Arbeit sogar mehr ein, als ihr Titel suggeriert. Die Bürgerbriefe geben nämlich Aufschluss über politische Dispositionen, Vergangenheitsdeutungen und Zukunftserwartungen, die sich wiederum als anschlussfähig erweisen an generationen-, geschlechter- und raumgeschichtliche Fragestellungen (Kapitel "Generationenkluft und Erwartungsgemeinschaft", "Bacchus und Venus", "Raum und Identität"). Auf der Basis der Hymnenpost wird ein beeindruckendes Mentalpanorama der frühen Bundesrepublik ausgebreitet, obgleich Escher die gesamtgesellschaftliche Relevanz des Themas zu hoch veranschlagt, wenn er den Hymnenstreit in einem Atemzug mit der Wiederbewaffnungsdebatte nennt (52).
Nach Eschers Lesart zeugen die Briefe von einer kollektivpsychologischen "Epochenverschleppung" [1], die sich in der Sehnsucht nach einer "vergangenen heilen Welt" ausdrückte: "Dort waren die Menschen nah bei Gott, dieser war nah bei den Deutschen. Der Kommunismus war fremd, die Memel aber noch deutsch, und die Kleinfamilie [...] bildete den Kern der Gesellschaft. Der deutsche Wald war so geheimnisvoll und schön wie zu Eichendorffs Zeiten und die Rheinfrische suchte man auf, um sich vom fleißigen Tagwerk zu erholen. Bei allem Maß und aller Mitte herrschte noch im letzten Herrgottswinkel etwas, woran es der Realität fehlte: deutsche Weltgeltung" (274). Vor dem Hintergrund einer solch idealisierten Vergangenheit wurde die Gegenwart als umso bedrückender empfunden. Diesbezüglich sahen sich die Schreiber größtenteils als Opfer - verführt von Hitler und den Nationalsozialisten, geschädigt durch den Krieg und seine Folgen. Selbstkritische Einlassungen blieben die Ausnahme: "Wir sind weit davon entfernt, das Land des Glaubens und der Liebe zu sein", beschied Heinrich Trost 1951 dem Bundespräsidenten: "Es gab Konzentrationslager und Judenverfolgungen!" (46) Repräsentativer sind Trotzbekundungen wie die von Elisabeth Maaß aus Hamburg: "Wenn auch die Franzosen oder Engländer zehn Kriege verloren hätten, nie würden sie klein beigeben und sich ihre Nationalhymne verbieten lassen - nur die Deutschen sind leider solche Waschlappen" (266). Die junge Bundesrepublik war, das machen solche Zitate deutlich, mit einer mentalen Hypothek belastet. Dass die demokratische Stabilisierung dennoch so rasch und vergleichsweise reibungslos gelang, erscheint umso bemerkenswerter.
Ein starkes Thema, präsentiert in einer spezifischen Mischung aus akademischem Jargon und pointierter, mitunter bissigen Wortwahl, die man von gediegenen Promotionsschriften nicht gewöhnt ist. Der Autor hat sich aber von dem Althistoriker Werner Dalheim daran erinnern lassen, "dass Clio auch eine Muse war" (9). Zudem kennt er keine Berührungsängste vor Aktualisierungen, verknüpft Vergangenheitsreflexion mit Gegenwartsbetrachtung und versieht den Text mit Seitenhieben auf den Brexit (74), die Flüchtlingspolitik (225) oder die AfD (277). So sind es vor allem der kraftvolle Zugriff und die lebendige Sprache, welche die Lektüre des anspruchsvollen, dicht geschriebenen Buches zu einem Lesevergnügen machen.
Im Vergleich dazu eher schemenhaft verbleibt hingegen das Kapitel "Adenauer- und Heussbilder", das die politischen Protagonisten des Hymnenstreits selbst zum Gegenstand hat. Dem Charisma-Konzept Max Webers, das Escher probehalber zur Anwendung bringt (72f.), entsprachen sie offensichtlich nicht. Obwohl es plausibler erscheint, sie als "zivile Vaterfiguren" zu begreifen, erlauben die "Poeme über Adenauer und Heuss" doch nur eine skizzenhafte Annäherung an diesen Topos (76). Für Konrad Adenauer [2] gilt: Wer die Haltungen, Erwartungen und Projektionen vertiefend erforschen möchte, die dem Gründerkanzler aus der Bevölkerung entgegengebracht wurden, der möge sich in die "Rhöndorfer Idylle" (9) begeben, um dort die allgemeine Korrespondenz zu sichten, ferner die unzähligen Glückwunschschreiben, Genesungswünsche und schließlich auch die Kondolenzpost. [3] Das Feld einer Alltags- und politischen Kulturgeschichte der frühen Bundesrepublik, das Clemens Escher für die Hymnenfrage mustergültig vermessen hat, kann hier weiter bearbeitet werden.
Anmerkungen:
[1] Bezogen auf die Wahrnehmung von Individuen und Gesellschaften bezeichnet dieser aus dem Werk des Schriftstellers Gregor von Rezzori entliehene Begriff "das anachronistische Überlappen von Wirklichkeitselementen, die spezifisch einer vergangenen Epoche angehören, in die darauffolgende" (18). So werden alte Sinnstiftungsmuster "gedanklich" in die manifeste Gegenwartsrealität "verschleppt" (274).
[2] Für Heuss, der einen beträchtlichen Zeit- und Arbeitsaufwand in die Beantwortung von Bürgerbriefen investierte, hat die Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus bereits eine dialogisch angelegte Edition veröffentlicht. Vgl. Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949-1959, hrsg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin / New York 2010.
[3] Der Adenauer-Nachlass wird im Archiv der bundesunmittelbaren Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Bad Honnef-Rhöndorf verwahrt, wo er nach den Maßgaben des Bundesarchivgesetzes einsehbar ist.
Holger Löttel