Martina Steber: Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, 1945-1980 (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; Bd. 78), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, XI + 522 S., ISBN 978-3-11-045428-4, EUR 64,95
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Riccardo Bavaj / Martina Steber (eds.): Germany and 'The West'. The History of a Modern Concept, New York / Oxford: Berghahn Books 2015
Martina Steber: Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010
Martina Steber / Bernhard Gotto (eds.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford: Oxford University Press 2014
Es lässt sich nicht gut behaupten, dass die Zahl der jüngeren Studien zur Geschichte der Parteien in der Bundesrepublik unüberschaubar sei. Tatsächlich lassen sich die wichtigsten Referenzwerke mehr oder weniger an einer Hand abzählen. [1] In der Zeitgeschichte sind seit geraumer Zeit soziale Bewegungen angesagt. Parteiengeschichte dagegen gilt als bieder und angestaubt, "alte" Politikgeschichte eben - zu ereignisgeschichtlich, zu personenfixiert, zu wenig methodisch reflektiert.
All diese Vorurteile widerlegt nun gründlich die neue Monografie von Martina Steber, hervorgegangen aus ihrer Münchener Habilitationsschrift von 2015. Das klassische Muster der Parteiengeschichtsschreibung wird in diesem Buch gleich dreifach innovativ durchbrochen. Erstens basiert Stebers Untersuchung auf einem transnationalen Vergleich. Zwar fällt der Teil zur Bundesrepublik und der CDU/CSU mit 248 Seiten deutlich umfangreicher aus als der Teil zu Großbritannien und der Conservative Party mit 81 Seiten. Doch allein die stete Verfügbarkeit einer Kontrastfolie zwingt zu analytischer Präzision, zumal Steber den Vergleich in einer Art Flugschleife mit 56 Seiten histoire croisée abschließt, die wechselseitige Beeinflussungen und Ideentransfers zwischen den Ländern und Parteien zum Thema haben. Zweitens schreibt Steber Parteiengeschichte konsequent als intellectual history. Die oft als Randfiguren vernachlässigten "Parteiintellektuellen" rücken in das Zentrum der Darstellung. Mit Bezug auf die CDU/CSU dürfte dies die erste Studie sein, in der Eugen Gerstenmaier und Kurt Biedenkopf mehr Aufmerksamkeit erfahren als Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Drittens ist Stebers Studie, wie der Titel ja schon sagt, methodologisch als Sprachanalyse angelegt. Das erweist sich mit Bezug auf den Untersuchungsgegenstand Konservatismus als bemerkenswert sinnig. Dass politische Macht entscheidend auf Sprachhoheit fußt, wissen die Historiker zwar bereits seit Thukydides. Doch Steber postuliert wohl nicht zu Unrecht "ein spezifisches Verhältnis der Konservativen zur Sprache" (4). Deuten sich im Wandel der Begriffswelten doch zuerst jene Verschiebungen im geistigen Überbau der Gesellschaft an, von denen Konservative am ehesten eine Gefährdung ihrer "bewährten" Lebenszusammenhänge befürchten (während "Linke" eher auf die sozioökomischen Basisprozesse achtgeben). Den Obertitel ihrer Studie entlehnt Steber nicht von ungefähr dem Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis, der in den 1970er-Jahren "Hüter der Begriffe" gegen eine vermeintlich demokratiezersetzende Sprachpolitik der Neuen Linken suchte (zit. 4). Steber geht aber noch weiter. In strikter Ablehnung aller Versuche, Konservatismus ideologisch über konkrete Inhalte zu definieren, definiert sie ihrerseits Konservatismus in Anlehnung an den britischen Politikwissenschaftler Michael Freeden "als sprachliche Struktur, als ein Netz von Begriffen". Als "morphologische Strukturprinzipien" politischer Sprache, die laut Steber "konservativem Denken und Handeln Konstanz gab(en) und für seine Wiedererkennbarkeit sorgten", identifiziert sie 1.) das Prinzip der Zeitlichkeit, nämlich das konservative Bemühen um ein sprachliches Gleichgewicht der Zeitdimensionen von "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft"; 2.) das Prinzip von "Ausgleich und Synthese" mittels dessen sich das konservative "Streben nach Maß und Mitte" sprachlich realisiere; 3.) das Prinzip der Repetition von Begriffen, dem das konservative Bedürfnis des Bewahrens entspricht; 4.) das Prinzip der Gegensatzbildung (8ff.).
Vor zwanzig Jahren hatte Stefan Berger in einer komparativen Untersuchung von britischer Labour Party und deutscher Sozialdemokratie gegen die damals noch virulente Sonderwegthese starke Parallelen in der Entwicklung beider Arbeiterparteien festgestellt. [2] Steber kann für ihren Fall nun umgekehrt bemerkenswert konträre Ausgangslagen konstatieren. Während in Deutschland das Sprechen über Konservatismus nach 1945 ein "stetes Ringen" mit den "antiliberalen Bedeutungstraditionen" des Begriffs darstellte, war der Begriff in Großbritannien als Bezeichnung für eine politische Strömung in der Demokratie von vornherein etabliert. Mit der Conservative Party konnte eine einzelne Partei die "Deutungshoheit über das Konservative" für sich beanspruchen. "Ihre Geschichte stellte die Begriffsvorräte bereit" (355). Das zentrale Begriffspaar Conservatism und Toryism verfolgt Steber bis ins späte 18. Jahrhundert zurück. Schon damals, so Steber, sei die Selbstbezeichnung Tory als Gegenbegriff zu Liberal auf eine sozial-paternalistische Note festgelegt worden, während dem von Chateubriand übernommenen Konzept der conservative principles von Beginn an liberale Potentiale innegewohnt hätten - sei es doch vornehmlich anti-subversiv bestimmt gewesen, habe also vor allem den charakteristischen konservativen Skeptizismus gegen ideologische Dogmen und radikale Theorien ausgedrückt. Das ist im Grunde schon die semantische Hauptlinie, die Steber auch durch die sprachpolitischen Debatten der Conservative Party nach 1945 zieht. "The function of Conservatism is to protect, apply and revive what is best in the old", grenzte 1947 Quintin Hogg den Begriff bewusst vom Reactionary ab (zit. 29). In den Nachkriegsjahrzehnten dominierte im britischen Konservatismus unter Führern wie Harold Macmillan und Edward Heath eine Semantik des middle way, gegen die die minoritäre Parteirechte um Enoch Powell vergeblich den Toryism zu reaktivieren versuchte. Der progressive conservatism scheiterte laut Steber letztlich vor allem an seiner Überspitzung. Im Modernisierungspathos der Heath Era wurde das Prinzip des Ausgleichs der Zeitdimensionen einer einseitigen Zukunftsorientierung geopfert. Vor lauter Konsens wurde die Bildung von Gegensatzpaaren vernachlässigt. In den 1970er-Jahren wurde das zur Steilvorlage für Margaret Thatcher. Von ihren männlichen Beratern permanent intellektuell unterschätzt, erwies sich die erste weibliche Parteivorsitzende als Meisterin darin, politisch-intellektuelle Debatten auf konträre Schlagworte zu reduzieren. Ihre fast obsessive Fixierung auf den sprachpolitischen Kampf gegen die Linke und eine von Klarheit und Eindeutigkeit geprägte Rhetorik machten Thatcher zur "Hüterin der Begriffe" par excellence (82).
Kann sich Steber im britischen Fall weitgehend auf die Conservative Party und ihr unmittelbar verbundene Autoren beschränken, muss sie im deutschen Fall außer der CDU/CSU noch eine Reihe anderer, der Union teils durchaus fernstehender Gruppierungen und mit der DP sogar eine zweite konservative Partei in den Blick nehmen. Auch deshalb fällt dieser Teil so diskrepant länger aus. Es muss gesagt sein, dass vieles, was Steber hier als "Arbeit am Begriff" (116) analysiert, sich auch wie Arbeit liest. Das gilt vor allem für die recht verzweifelten Versuche von Adepten der Konservativen Revolution der Zwischenkriegszeit, ihren Konservatismus-Begriff nach 1945 metaphorisch in "ein Außerzeitliches" (Ernst Jünger, zit. 117) zu transformieren. Dennoch kann nicht genug hervorgehoben werden, dass Steber auch im deutschen Teil ihres Vergleichs zu hochinteressanten Erkenntnissen und Neuinterpretationen gelangt. So widerlegt Steber die in der Konservatismus-Forschung häufig vertretene Annahme, der Begriff sei nach 1945 in der Bundesrepublik gemieden worden und konservative Intellektuelle hätten sich stattdessen hinter christlicher Semantik versteckt. [3] Stattdessen demonstriert sie überzeugend, wie sich gerade die katholische Abendland-Bewegung die Bezeichnung "konservativ" offensiv aneignete. Auch in der CDU/CSU wurde schon in den 1950er-Jahren intensiv über Konservatismus debattiert, und zwar je stärker, je mehr die Integrationsformel als christliche Weltanschauungspartei an Bindekraft einbüßte. Laut Steber bewirkten diese unionsinternen Debatten schon in den 1950er-/60er-Jahren eine Liberalisierung des Konservatismus-Begriffs. Damit relativiert sie ein Stück weit die Bedeutung jener Professoren-Intellektuellen, die in den 1970er-Jahren in Reaktion auf die Wahrnehmung einer kulturellen Hegemonie der Neuen Linken eine Neuformulierung des Konservatismus "aus liberalem Geiste" anstrebten. Zwar widmet sich auch Steber ausführlich einem "sprachkritischen Quintett" (238) aus Hans Maier, Wilhelm Hennis, Hermann Lübbe, Kurt Sontheimer und Helmut Schelsky, das gegen eine vermeintliche linksutopische Aufladung der politischen Sprache eine konservativ attribuierte Sprache der "Vernunft" etablieren wollte. Doch hatte etwa Jens Hacke darin noch eine zweite intellektuelle Begründung der Bundesrepublik erblickt [4], so sieht Steber die sprachpolitische Offensive der liberalkonservativen Professoren im Gegenteil als gescheitert an. Denn zum einen konkurrierten sie in den 1970er-Jahren mit einer sozialdemokratischen Strömung in den Politik- und Geschichtswissenschaften (Helga Grebing, Martin Greiffenhagen u.a.), die den Konservatismus-Begriff einseitig auf seine antidemokratischen Kontinuitätsstränge von vor 1945 reduzierten. Zum anderen habe just in jener Zeit tatsächlich eine Revitalisierung eines dezidiert antiliberalen rechtsintellektuellen Milieus stattgefunden. Steber leuchtet die Netzwerkstrukturen dieses Milieus detailliert aus. Sie übersieht auch nicht dessen Überlappungen mit dem liberalkonservativen Milieu, die zeitgenössisch eine Unterscheidung so schwer machte, wobei sie selbst eher die ideologischen Unterschiede betont. Jedoch habe diese Entwicklung die zu Beginn der 1970er-Jahre noch gegebenen "Entwicklungsmöglichkeiten eines liberalen Konservatismusbegriffs [...] abgeschnitten" (322). Für die CDU/CSU wurde der umstrittene Terminus zur Selbstbeschreibung zunehmend unattraktiv.
Interessante Verflechtungsperspektiven bietet abschließend das Kapitel zu den bilateralen Beziehungen zwischen Conservative Party und CDU/CSU. Zu den überraschenden Funden zählt hier etwa die Pionierrolle der Frauen-Union bei der Kontaktanbahnung. Sprachanalytisch wird deutlich, dass sich die beiden Parteien bei aller Unterschiedlichkeit ihres Umgangs mit dem Terminus "konservativ" in den 1970er-Jahren doch gegenseitig in ihren Polemiken gegen die Sozialdemokratie unter dem Schlagwort "Freedom"/"Freiheit" ("statt Sozialismus") beeinflussten.
Martina Steber hat ein ungeheuer gründliches und beeindruckend kluges Buch geschrieben. Wenn es etwas zu bemängeln gibt, so am ehesten jene Schwierigkeit, die Steber in ihrer Einleitung (5) als "Klippe des semantischen Nominalismus" selbst schon problematisiert, nämlich die unweigerliche Vermischung von Quellensprache und historiografischen Analysekategorien beim Schreiben über "das Konservative". Stebers Entscheidung, Konservatismus als semantische Struktur des Ausgleichs und des Bewahrens zu definieren, erweist sich über die gesamte Strecke der Untersuchung als analytisch hoch produktiv. Sie ist aber natürlich auch ein gewisses Präjudiz gegenüber solchen Theoretikern, die Konservatismus inhaltlich-ideologisch definieren. Das trifft vor allem Ideologen der Neuen Rechten, die sich selbst als konservativ definierten, denen Steber aber dieses Attribut qua Definition abspricht (308). Andererseits darf man in Zeiten erneuter Gefährdung der liberalen Demokratie durch rechten Populismus wohl dankbar sein für eine Geschichtsschreibung, die so dezidiert und fundiert einen liberalen Standpunkt verficht.
Anmerkungen:
[1] Zu nennen wären natürlich unbedingt: Frank Bösch: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart / München 2002; ders.: Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945-1969, Stuttgart / München 2001; Bernd Faulenbach: Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969-1982, Bonn 2011; Silke Mende: "Nicht rechts, nicht links, sondern vorn". Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011; mit Spezialthema auch: Kristina Meyer: Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1990, Göttingen 2015.
[2] Stefan Berger: Ungleiche Schwestern? Die britische Labour Party und die deutsche Sozialdemokratie im Vergleich. 1900-1931, Bonn 1997.
[3] So etwa noch der Rezensent selbst in: Protest der Professoren. Der "Bund Freiheit der Wissenschaft" in den 1970er Jahren, Göttingen 2014, 433.
[4] Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006.
Nikolai Wehrs