Claudius Sittig / Christian Wieland (Hgg.): Die 'Kunst des Adels' in der Frühen Neuzeit (= Wolfenbütteler Forschungen; Bd. 144), Wiesbaden: Harrassowitz 2018, 364 S., 50 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-10486-9, EUR 82,00
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Der vorliegende Sammelband geht auf eine von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung geförderte Tagung zurück, die 2012 in Wolfenbüttel stattfand. Im Mittelpunkt des Sammelbandes steht die adlige Lebensführung, im metaphorischen Sinne die "Kunst, ein adliges Leben zu führen"; eingeschränkt geht es um einen "spezifisch adeligen Umgang[s] mit 'Kunst'" (2-3). Modern ausgedrückt werden "soft skills" des Adligseins gegenüber den harten Faktoren verfassungsrechtlicher, ökonomischer und politischer Vorrangstellung der adligen Familien thematisiert. Bei aller Betonung von Lebensführung und der Demonstration des sozialen Status, Adligsein war zu allererst ein Rechtsstatus.
Zu Beginn umreißen die beiden Herausgeber in einer Einleitung das Thema der Tagung und die im Sammelband vereinigten Beiträge. Nur ein Teil der Tagungsvorträge finden sich in dem Sammelband wieder. Bei einem solch umfassenden Thema, Kunst und Adel in der europäischen Frühen Neuzeit, können nur Schlaglichter auf verschiedenste Phänomene geworfen werden. So wechseln sich Beiträge, in denen Rezeptionsfragen behandelt werden, mit Beiträgen ab, die normative Aspekte des Adligseins vorstellen.
Jonathan Dewald widmet sich in seinem Beitrag "Writing failure: aristocratic self-depiction in seventeenth-century France" den autobiografischen Texten des Herzogs Henri de Rohan und den darin formulierten Strategien zur Deutung seines eigenen politischen Scheiterns. In Anlehnung an antike rhetorische Muster gelang es dem Herzog, die vermeintliche Niederlage in einen Sieg umzudeuten. Ähnliche Fragen verfolgt Edoardo Costadura in seinem Beitrag "Bussy-Rabutin: Glanz und Elend eines Edelmanns im literarischen Feld des Grand Siècle", der sich dem in Ungnade gefallenen Höfling Ludwigs XIV., Roger de Rabutin, Comte des Bussy, widmet. Gegenüber den mehr oder weniger autobiografischen französischen Texten Rohans und Rabutins, die mit je eigenen literarischen Strategien ihr Scheitern verarbeiteten und deuteten, widmet sich Volkhard Wels der Lyrik. In seinem Beitrag "Versform und höfisches Ideal bei Martin Opitz" wendet Wels sich einem normativen Konzept eines Dichtungsideals zu, das auf die Erfordernisse der adligen Lebenswelt zu reagieren versuchte. In diesem Sinne thematisiert Andreas Herz in seinem Beitrag "'Edle Ritter dieser Zunft'. Beobachtungen zur sozietären Performanz der Fruchtbringenden Gesellschaft" die Institutionalisierung adlig inspirierter Dichtkunst.
Der Frage, ob eine eigenständige adlige Literaturform existiert habe, stellen sich Claudius Sittig in seinen "Überlegungen zu einer Literaturgeschichte des Adels in der Frühen Neuzeit" und Angelika Linke in ihrem Beitrag "Von höfischem Wortgepränge zu bürgerlicher Korrektheit. Sprachbewusstseinsgeschichte und Sprachnormenwandel vom 17. zum 19. Jahrhundert". Konstatiert wird die Existenz mehr oder weniger geschlossener adliger Kommunikationsräume und in sprachgeschichtlicher Perspektive die Ablösung einer höfisch geprägten Sprechweise durch eine bürgerliche Schriftlichkeit. Den Formen des Adelsstudiums widmet sich Christian Wieland in seinem Aufsatz "Nähe, Distanz und Differenz: Reflexionen über Adel und Wissenschaft im Alten Reich der Frühen Neuzeit". Um 1700 galt das Adelsstudium als Selbstverständlichkeit. Am Beispiel der Hofmeisterliteratur wird die normative Ebene adliger Bildung ausgeleuchtet.
Martin Wrede interpretiert in seinen Ausführungen "Imaginer le duc. Philipp II. und das ritterliche Erbe der Burgunder" die Selbstinszenierung Philipps II., des späteren spanischen Königs, anlässlich seiner Reise in die Niederlande und ins Reich 1549. Ronald G. Asch schildert in seinem Beitrag über "Die Kunst des Regelbruchs und die Krise des Heroischen: Adlige Libertins in der Epoche der Restauration in England, ca. 1660-1688" englische Adlige, die sich nicht als Erfüller adliger Standesregeln inszenierten sondern im Gegenteil als deren Missachter. Mit dem Beitrag von Klaus Pietschmann über "Musiktheorie als adelsgemäßer Gesprächsstoff. Vincenzo Galileis Dialogo della musica und die Florentiner Aristokratie des ausgehenden 16. Jahrhunderts" werden musikalische Ausdrucksformen in der adligen Kultur thematisiert. In Galileos Musiktraktat wird das richtige Sprechen den Adligen vorgestellt. In ähnlicher Weise konstatiert Ivana Rentsch in ihren Ausführungen "Der adlige Tänzer. Soziale Norm und musikalische Form im 17. Jahrhundert" die Bedeutung des Tanzes für die Konstituierung des richtigen Adligseins. Beide musikhistorischen Beiträge rekurrieren allerdings auf einen normativen Kosmos, dessen Wirkmächtigkeit in der adligen Lebenswelt unberücksichtigt bleibt.
Der bildenden Kunst sind die drei letzten Beiträge gewidmet. Die "Distinktionsmerkmale der römischen Aristokratie in der Kunst des 17. Jahrhunderts" stehen im Mittelpunkt der Ausführungen von Arne Karsten. Die römische Aristokratie funktionierte in ihren Memorialleistungen anders als andere Adelskulturen in Europa, da sie wesentlich auf die Kirche hin ausgerichtet war, die durch ihre Zölibatsforderung dem dynastischen Grundprinzip der europäischen Adelsgesellschaft diametral zuwiderlief. In der Kunstpräsentation und im Mäzenatentum der römischen Aristokratie wurden die Familienmitglieder in hohen Kirchenämtern gleichsam als Spitzenahne der jeweiligen Familien vorgestellt. Anhand von Gemälden für den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen formuliert Matthias Müller in seinem Aufsatz "Adelige Kunst jenseits der Funktion? Zum schwierigen Verhältnis von Autonomie und Pragmatismus in der höfischen und adeligen Kunst der Frühen Neuzeit" die These, dass die Kunstwerke aus sich selbst heraus überzeugen mussten, um im höfischen Umfeld ihre Wirkung entfalten zu können. Zum Ende verweist Marcus Becker auf ein weit verbreitetes Phänomen der Adelsgesellschaft: das Präsentieren von Antiken. "Kanon à la mode. Antikenkopien und adlige Lebenswelten am Ende des 18. Jahrhunderts" beschreibt eine sehr große Nachfrage nach Antiken, die nur durch Kopien befriedigt werden konnte. Durch ihre Kopieraufträge gestalteten die Käufer solcher Kopien gleichsam ihr eigenes Bild von der Antike.
Der gelungene und reich bebilderte Sammelband thematisiert verschiedenste Aspekte adliger Kunstproduktion und adligen Kunstkonsums in der Frühen Neuzeit und beleuchtet auf vielfältige Weise die Bedeutung künstlerischer Güter und ihres Konsums als wichtige Ausdrucksformen des Adligseins für ein adliges Selbstverständnis in den verschiedenen europäischen Adelskulturen.
Thomas Fuchs