Peter N. Miller: History and Its Objects. Antiquarianism and Material Culture since 1500, Ithaca / London: Cornell University Press 2017, XI + 300 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-0-8014-5370-0, USD 39,95
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Peter N. Miller, ausgewiesener Kenner des französischen Antiquars Nicolas Claude Fabri de Peiresc (1580-1637) und in Fragen des frühneuzeitlichen Antiquarianismus bewandert, ist mit seinem jüngsten Buch zu neuen Ufern aufgebrochen. Er will zurückverfolgen, wie Gelehrte im Laufe von 500 Jahren die Vergangenheit mittels Objekte erkundeten. Erklärtes Ziel ist es, den seit über zwanzig Jahren bestehenden material culture studies ihre teilweise unbekannte - weil untergetauchte - Geschichte wiederzugeben. Diese sei zwar nicht gradlinig verlaufen, lasse sich aber vom 20. Jahrhundert bis in die Renaissance zurückverfolgen, sei es auch nur in dem Sinne, dass es in diesem Zeitraum wiederkehrende material turns gegeben hat. Denn Historikerinnen und Historiker und "past-lovers" (17) haben trotz Vorrangs der Schriftquellen bei der Erforschung der Vergangenheit immer wieder auf Objekte als Quellen zurückgegriffen, um vergangene kulturelle Zustände zu beschreiben.
Millers Leitfrage ist eine epistemologische: Nicht was Antiquare bzw. Historikerinnen und Historiker über Objekte geschrieben haben interessiert ihn, sondern eher, wie sie über Objekte als Quellen zur Erforschung der Vergangenheit reflektiert haben und welche Fragen sie damit zu beantworten anstrebten. Daraus ergeben sich zwei Folgen: Zunächst ist es die Zusammensetzung der Quellen, auf die der Autor seine Studie stützt. Diese sind weniger historische Erzählungen als vielmehr theoretische Passagen, in denen die Vergangenheitsforscher über die Arbeit mit Objekten reflektierten. Die Frage jedoch, ob diese Autoren ihre programmatische Absicht, objektbasierte Forschung durchzuführen, tatsächlich umgesetzt haben, bleibt insgesamt offen. Zweitens fokussiert sich Miller auf den deutschsprachigen Forschungsraum im 19. Jahrhundert, und dies mit der Begründung, nur in Deutschland habe eine heuristische Reflexion über materielle Quellen auf solch hohem Niveau der Konzeptualisierung und des Selbstbewusstseins über mehrere Generationen hinweg stattgefunden. Die Wurzeln der heutigen material culture führt Miller folglich auf das Deutschland des 19. Jahrhunderts zurück und sieht in dem Historiker Karl Lamprecht ihre Schlüsselfigur. Zu diesem historiografischen Moment existiert im Übrigen eine umfangreiche und grundlegende deutschsprachige Literatur, etwa die Werke von Horst Walter Blanke und Dirk Fleischer fürs 18. [1] und von Hans Schleier fürs 19. Jahrhundert [2], von denen Miller für seine Studie ebenfalls profitiert hat.
Die Gliederung des Buches ist keine strikt chronologische, sondern eine problemorientierte. Im ersten Kapitel bietet der Autor eine selektive und dennoch bunte Übersicht von Schriftstellern, Philosophen, Dichtern, Historikern, Anthropologen, Museumskuratoren etc., von Rainer Maria Rilke, Aby Warburg, Walter Benjamin, Marc Bloch, Fernand Braudel, André Leroi-Gourhan bis zu Winfried Georg Sebald, Orhan Pamuk und Neil MacGregor, die sich im 20. Jahrhundert auf verschiedene Weise der materiellen Kultur zugewendet haben. Miller geht es darum, deren bis heute bestehende Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit zu verdeutlichen. Auf die Frage, wer sich vor Marc Bloch und Aby Warburg mit Objekten als Quellen beschäftigt hätte, antwortet Miller im zweiten Kapitel, das Karl Lamprecht gewidmet ist. Den deutschen Historiker stellt der Autor nicht nur als einflussreichen Lehrer von Marc Bloch und Aby Warburg dar, er betrachtet ihn ferner als Vater der heutigen materiellen Kulturgeschichte. Bei der Rekonstruktion von Lamprechts Wende in der Geschichtswissenschaft in den 1880er-Jahren lenkt der Autor das Augenmerk besonders auf dessen Begriff der "realen Cultur" (43), den er mit der antiquarischen Erforschung der "realia" in der Frühen Neuzeit in Verbindung bringt. Damit suggeriert er jedoch - oder zumindest lässt er die missverständliche Deutung zu -, dass Karl Lamprecht unter materieller Kultur Objekte verstanden habe. Zu dieser Schlussfolgerung wird der Leser weiterhin im dritten Kapitel verleitet, in dem Miller die frühneuzeitlichen Antiquare, von Nicolas Claude Fabri de Peiresc bis zum Comte de Caylus, als Urgroßväter von Marc Bloch und Aby Warburg betrachtet, und zwar als "the great-grandfathers who taught Lamprecht" (53). Letzterer verstand hingegen unter "materieller Kulturgeschichte" unmissverständlich Wirtschaftsgeschichte, wie Luise Schorn-Schütte in ihrer Studie gezeigt hat [3], und was der jüngst erschienene Briefwechsel von Karl Lamprecht mit Ernst Bernheim und Henri Pirenne aus den 1890er-Jahren bestätigt. [4] Karl Lamprechts "materialistische Geschichtsauffassung" [5] darf daher nicht mit objektbasierter Forschung verwechselt werden. Die begriffliche Unschärfe zwischen dem englischen Attribut "material" und dem deutschen "materiell/materialistisch" bzw. die spannende Frage, in welcher Beziehung objektbasierte Forschung und Materialismus gegebenenfalls stehen, stellt Miller nicht - auch nicht an der Stelle, an der er die Marx'schen Objektontologie deutet (164-167).
Vom vierten bis zum achten Kapitel lässt Miller den Diskurs über die materiellen Quellen in Deutschland Revue passieren - etwa von Johann Christoph Gatterer, August Ludwig von Schlözer, Johann Ernst Fabri, Gustav Klemm und Hans von und zu Aufseß. Präzise analysiert Miller zahlreiche Werke, widmet sich auch zweitrangigen Theoretikern und arbeitet so das Erbe der antiquarischen Forschungsmethode heraus. Dabei hebt er zwei Hauptgründe hervor, die zwar zum "Aussterben" der Spezies Antiquarianismus, aber doch zum Weiterbestehen seiner Gene in anderen Wissensfeldern führten: Erstens die Ausdifferenzierung der Disziplinen im Wissenschaftssystem, wobei die sogenannten Hilfswissenschaften (in primis die Archäologie) die Arbeit mit materiellen Quellen übernommen haben. Zweitens die Herabwürdigung der objektbasierten Kulturforschung, die im 19. Jahrhundert zunehmend Laienhistorikern überlassen wurde, seitens professioneller Historiker wie Johann Gustav Droysen und Leopold von Ranke. Den engen Zusammenhang zwischen der historischen Forschung in den Geschichtsvereinen mit lokalem bzw. regionalem Schwerpunkt und der Arbeit mit materiellen Überresten und Artefakten erklärt Miller damit, dass die Lokalgeschichte intensive Feldforschung betrieb.
Zum Schluss kommt der Autor auf Arnaldo Momigliano, den Bahnbrecher in der Erforschung des neuzeitlichen Antiquarianismus, zurück. Dieser hatte gegen den modernen Konjunkturalismus - und dessen Kehrseite, den Skeptizismus - die Wiederbelebung der antiquarischen Methode zur kritischen fundierten Erkundung der Vergangenheit beschworen. [6] Miller unternimmt mit seinem Buch einen weiteren wesentlichen Schritt, indem er der objektbasierten Forschung eine entscheidende Funktion zuerkennt. Objekte verbinden uns sinnlich mit der Vergangenheit und zwingen uns dazu, Empathie und Imagination einzusetzen, um diese zum Sprechen zu bringen. Dadurch wird die Vergangenheit zur lebendigen und gegenwartbezogenen Geschichte, ohne die das Geschehene tot und schweigend bliebe. Und ohne diese Möglichkeit, uns mit den Toten sinnlich zu verbinden, wäre die Geschichte an sich nicht denkbar.
Anmerkungen:
[1] Horst Walter Blanke / Dirk Fleischer (Hgg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, 2 Bde., Stuttgart / Bad Cannstatt 1991.
[2] Hans Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung, 2 Bde., Waltrop 2003.
[3] Luise Schorn-Schütte: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen 1984. Es sei hier angemerkt, dass Miller dieses Werk gut kennt und an mehreren Stellen zitiert.
[4] Luise Schorn-Schütte / Mircea Ogrin (Hgg.): "Über das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte". Der Briefwechsel zwischen Karl Lamprecht und Ernst Bernheim sowie zwischen Karl Lamprecht und Henri Pirenne (1878-1915), Köln / Weimar / Wien 2017.
[5] So bezeichnet Henri Pirenne Lamprechts Geschichtsschreibung in: Ebd., 239.
[6] Arnaldo Momigliano: Antiquari e storici dell'antichità, in: ders.: Decimo contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico, hg. v. Riccardo Donato, Rom 2012, Bd. 1, 285-290.
Lisa Regazzoni