Rezension über:

Klaus Gereon Beuckers / Dorothee Kemper (Hgg.): Typen mittelalterlicher Reliquiare zwischen Innovation und Tradition. Beiträge einer Tagung des Kunsthistorischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 22. Oktober 2016 (= Objekte und Eliten in Hildesheim 1130 bis 1250; Bd. 2), Regensburg: Schnell & Steiner 2017, 247 S., 80 s/w-Abb., ISBN 978-3-7954-3229-4, EUR 39,95
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Rezension von:
Jörg Widmaier
Landesamt für Denkmalpflege, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Monika E. Müller
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Widmaier: Rezension von: Klaus Gereon Beuckers / Dorothee Kemper (Hgg.): Typen mittelalterlicher Reliquiare zwischen Innovation und Tradition. Beiträge einer Tagung des Kunsthistorischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 22. Oktober 2016, Regensburg: Schnell & Steiner 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 2 [15.02.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/02/30633.html


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Klaus Gereon Beuckers / Dorothee Kemper (Hgg.): Typen mittelalterlicher Reliquiare zwischen Innovation und Tradition

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Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert haben international diverse Disziplinen an der Erschließung mittelalterlicher Reliquiare gearbeitet. [1] Dass noch immer zahlreiche Forschungsfragen offen sind, zeigt der vorliegende Sammelband. Das zugrundeliegende Konzept ist dem Projekt "Innovation und Tradition. Objekte und Eliten in Hildesheim 1130 bis 1250" entlehnt, in dessen Reihe der Band veröffentlicht wurde. Der Forschungsverbund fragt, wie "sich die Veränderungen theologischer Vorstellungen und liturgischer Praxis, die Neuentwicklung künstlerischer Auffassungen und das Stiftungsverhalten von geistlichen und weltlichen Eliten in diesen Kunstwerken spiegeln". [2] Hieraus erklärt sich die Auswahl von Objekten mit Hildesheimer Provenienz.

Forschungsgeschichtlich lassen sich bei Untersuchungen zum Thema seit den 1960er-Jahren verstärkt diskursorientierte, das heißt theologische oder ästhetische Praktiken kontextualisierende Arbeiten von jenen Ansätzen unterscheiden, die primär objektorientiert, also mit Fokus auf restauratorische wie technologische Analysen, sind. Es ist das Verdienst des vorliegenden Bandes, diese unterschiedlichen Zugänge für einen übergreifenden methodischen Beitrag zur Forschung fruchtbar zu machen und nach künstlerischen Lösungen, Neuentwicklungen und Wandlungsprozessen mittelalterlicher Reliquiare zu fragen. Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes präsentieren unterschiedliche Reliquiartypen gemäß formalen und inhaltlichen Kriterien. So werden bildgebundene (anthropomorphe bzw. attributive) wie auch funktionsgebundene, nach Nutzung geschiedene Reliquiare präsentiert. Dieses Vorgehen dient - so Klaus Gereon Beuckers im einleitenden Beitrag der Herausgeber (22) - dem Herausarbeiten typologischer Sonderlösungen und dem Aufzeigen von Beeinflussung und Wechselwirkung unterschiedlicher Typen.

Der einleitende Beitrag Beuckers gibt Einblick in die frühe deutsche Forschungsgeschichte und zugleich grundlegende Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Typenbildung. Demnach ist statt eines kanonisierten formalen Codes bei der Gestaltung der Gefäße eine enorme Vielgestaltigkeit zu erkennen. In diesem Rahmen verweist Beuckers auch auf jene häufig vernachlässigten, einfach gestalteten Objekte, die für eine gesamtheitliche Sicht unerlässlich sind. Der Beitrag ist innerhalb des Sammelbandes und aufgrund der vielfältigen Frage- und Problemstellungen auch für die künftige Forschung zu mittelalterlichen Artefakten von Gewinn - etwa hinsichtlich Fragen nach der Materialität, Medialität und Präsenz mittelalterlicher Kunst.

In den anschließenden elf interdisziplinären Beiträgen wird ein Überblick zu Bandbreite und Vielfältigkeit mittelalterlicher Reliquiare gegeben, wobei gestalterische und nutzungsorientierte Fragen erläutert werden. Anhand forschungsgeschichtlicher, technologischer, stilistischer und historischer Ausführungen werden Artefakte im Sinne einer Objektbiografie fokussiert, ohne direkte Referenz auf die entsprechenden kulturhistorischen Instrumentarien. [3] In einigen Beiträgen gelingt es vorbildlich, den größeren Bestand des entsprechenden Typus komparatistisch vorzustellen. Holger A. Klein beschreibt mit dem Apostel-Armreliquiar aus dem Welfenschatz zu Cleveland beispielsweise nicht nur das benannte Objekt und legt dabei seine Forschungsgeschichte dar, sondern auch den Typus der entsprechenden anthropomorphen Reliquienbehälter. Auch Kirstin Mannhardt präsentiert neben Überlegungen zum traditionsbildenden Charakter der Bursenreliquiare einen Katalog, der mit Hinweisen zu Abbildungen und Literatur den größeren Bestand erschließt. Julia von Ditfurth stellt mit einem Reliquienwagen ein typologisches und motivisches Unikat vor. Durch einen Vergleich mit anderen Cabochonreliquiaren vermag sie schlüssig, visuelle und haptische Verwendungsformen der diaphanen Artefakte zu skizzieren. Im abschließenden Beitrag führt Carolin Marie Kreutzfeldt vielschichtig in die Forschungsgeschichte bildgebender Artefakte ein. Anhand attributiver Reliquiare führt sie den zeichenhaft verweisenden Charakter des Attributes als autonomes Bildwerk auf, welches sowohl im Rahmen der Verehrung von Reliquien wie auch der rituellen Verwendung von Reliquiaren eine bedeutende Rolle spielte.

Nicht alle Beiträge ermöglichen es dem Leser, über die Darstellung des ausgewählten Objektes einen Bezug zum übergeordneten Konzept des Sammelbandes herzustellen. Dies liegt meist an den komplexen Kontexten und Überlieferungszuständen der Objekte, die eine Fokussierung auf den Einzelfall notwendig machen. Besonders hilfreich sind die resümierenden Überblicke und methodisch anschlussfähigen Zusammenfassungen, die allerdings leider nicht in jedem Beitrag in gleicher Weise zu finden sind. Aufgrund der typologischen Durchgliederung des Sammelbandes ist der Verzicht auf ein Orts- und Sachregister zwar verständlich. Dies erleichtert jedoch nicht die Orientierung zwischen den einzelnen Beiträgen, nicht zuletzt, weil auf ein Schlussfazit verzichtet wurde. Das Fehlen einer Sammelbibliografie am Ende des Bandes erschwert eine einheitliche Übersicht der verwendeten Literatur.

Insgesamt knüpft der Sammelband nur bedingt an jüngere objekt- und materialbasierte Ansätze in den Kulturwissenschaften an. [4] Aufgrund der schlüssig ausdifferenzierten Objekttypen und der interdisziplinären Ansätze ist die vorliegende Arbeit eine empfehlenswerte Lektüre für die Reliquien- und Reliquiarforschung und hat das Potential zu einer gelungenen Handreichung für jene Fachleute zu werden, die an einem diskurs- wie typenorientierten Zugang zu mittelalterlichen Artefakten auch jenseits kunstvoll gestalteter Reliquiare arbeiten.


Anmerkungen:

[1] Stephan Beissel: Die Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien in Deutschland während der zweiten Hälfte des Mittelalters, Freiburg 1892; Joseph Braun: Die Reliquiare des christlichen Kultes und ihre Entstehung, Freiburg 1940; für weitere und aktuelle Literatur, vgl. die Angaben im einleitenden Beitrag des Sammelbandes, 11-22.

[2] Nach: Bericht des Arbeitskreises für Geschichte des Mittelalters, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 86 (2014), 475.

[3] Vgl. Arjun Appadurai (ed.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986; Chris Gosden / Yvonne Marshall: The Cultural Biography of Objects, in: World Archeology 31 (1999), Nr. 2, 169-178; Christina Tsouparopoulou / Thomas Meier: Art. "Artefakt", in: Thomas Meier et al. (Hgg.): Materiale Textkulturen: Konzepte, Materialien, Praktiken, Berlin 2015, 47-61; Susanne Wittekind: Versuch einer kunsthistorischen Objektbiographie, in: Dietrich Boschung et al. (Hgg.): Biography of Objects. Aspekte eines kulturhistorischen Konzepts, Paderborn 2015, 143-172.

[4] Vgl. Elizabeth DeMarrais et al. (eds.): Rethinking Materiality: The Engagement of Mind with the Material World, Cambridge 2004; Lambros Malafouris / Colin Renfrew (eds.): The Cognitive Life of Things: Archaeology, Material Engagement and the Extended Mind, Cambridge 2010; Thomas Meier et al. (Hgg.): Materiale Textkulturen: Konzepte, Materialien, Praktiken, Berlin 2015; Susanne Wittekind: Versuch einer kunsthistorischen Objektbiographie, in: Dietrich Boschung et al. (Hgg.): Biography of Objects. Aspekte eines kulturhistorischen Konzepts, Paderborn 2015, 143-172.

Jörg Widmaier