Ivan G. Marcus: Sefer Hasidim and the Ashkenazic Book in Medieval Europe (= Jewish Culture and Contexts), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2018, XIV + 202 S., ISBN 978-0-8122-5009-1, USD 69,95
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Die vorliegende Monografie ist das Ergebnis einer rund vierzigjährigen Beschäftigung ihres Autors mit der Materie. Insofern ist eine große Kennerschaft zu erwarten und der Leser / die Leserin wird nicht enttäuscht.
Im Zentrum der Untersuchung steht die verwirrende Tatsache, dass das mittelalterliche jüdische Buch Sefer Hasidim ("Buch der Frommen") in jeder der über zwanzig überlieferten handschriftlichen Fassungen einen anderen Textbestand aufweist, wobei es zwei Hauptfassungen zu geben scheint. Allen Fassungen gemeinsam ist, dass sie aus einzelnen, nicht aufeinander aufbauenden Texteinheiten (Paragrafen bzw. Absätzen) bestehen. Für diese Art der Überlieferung und Zusammenfügung verwendet Marcus, in Anlehnung an eine Begriffsbildung von Israel Ta-Shma, die Bezeichnung "open book", die nicht allein auf das Sefer Hasidim beschränkt ist, sondern auch auf andere Werke aschkenasischer (d.h. mittelalterlicher deutscher bzw. nordfranzösischer jüdischer) Autoren angewendet werden kann.
In vier sehr knappen Kapiteln (13-86) werden vier Themenbereiche abgearbeitet: Zum einen erfolgt eine nähere Betrachtung des Sefer Hasidim als offener Text, der vom Autor in einzelnen Abschnitten geschrieben und in unterschiedlicher Zusammenstellung an die Schüler weitergegeben worden sein soll. Zum anderen werden weitere Texte sowohl von R. Judah ben Samuel, genannt ha-Chasid ("der Fromme"), dem Verfasser des Sefer Hasidim, als auch einem anderen Autor (Eleasar von Worms) und ihre ebenfalls offenen Texttraditionen näher beleuchtet. Bemerkenswert sei, so Marcus, dass auch sefardische Traditionen (z.B. aus der Feder des Maimonides) eingearbeitet wurden, aber nicht zum Hauptüberlieferungsstrang gehörten. In einem dritten Schritt werden die wenigen verlässlichen biografischen Stationen aus dem Leben von R. Judah zusammengetragen. So steht fest, dass er am 13. Adar (entspricht dem 22. Februar) 1217 in Regensburg gestorben ist, aber aus Speyer stammte. Der genaue Grund für die Übersiedlung lässt sich nicht rekonstruieren, aber Marcus gibt gute Gründe dafür an, dass er als Sozialkritiker im Rheinland einen schweren Stand hatte und deshalb von dort wegzog. Sein Einflusskreis blieb beschränkt auf einige wenige Schüler und Verwandte, dennoch reicht sein religiöser Einfluss hinsichtlich einzelner Festtraditionen und Lehrmethoden bis heute. In einem vierten Schritt werden verschiedene aschkenasische Bücher angeführt, für die sich vergleichbare offene Texttraditionen feststellen oder zumindest vermuten lassen.
Den bedeutendsten Teil des Buches stellt der angehängte Katalog der erhaltenen Handschriften und Textausgaben des Sefer Hasidim dar (87-124): Auf eine Übersicht der gedruckten und zitierten Kataloge (87-89) werden insgesamt 37 Handschriften und Handschriftenfragmente mitsamt Bibliotheksstandorten und Nummer des Jerusalemer Microfilmarchivs aufgelistet (90-112). Es folgt eine Beschreibung der Drucke Bologna 1538 und Basel 1580 samt einer Synopse, des Drucks Krakau 1581 sowie eine Übersicht der rund 50 Drucke bis 1913 und der sechs modernen Editionen und der elektronischen Synopse von 19 Ausgaben (112-124).
Der Band wird beschlossen von den Fußnoten zu Einleitung und Hauptteil (125-160), einem leider unvollständigen Literaturverzeichnis, in dem sich viele in den Anmerkungen zitierte Texte nicht finden (161-189) sowie einem Index (191-197). Gerahmt wird er durch ein Abkürzungsverzeichnis (ix-xii), eine Einleitung (1-12) und die "Acknowledgments" (199-202).
Das Buch besticht durch die auf jeder Seite wahrnehmbare Kenntnis und Meisterschaft ihres Autors, auch wenn die grundlegende These, dass ein Merkmal aschkenasischer Literatur des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts sei, dass Bücher nicht als fortlaufendes Textganzes, sondern vielmehr als Sammlung individuell zusammenzustellender Textabschnitte geschrieben seien, nicht vollends überzeugt. Hier ließe sich auch annehmen, dass die Schüler und Abschreiber eine Auswahl trafen oder aber eigene Ergänzungen in den Text einschrieben, wie es aus der Raschi-Überlieferung bekannt ist. Dennoch ist die Studie nachdenkenswert und als solche ein wichtiger Beitrag für die weitere Erforschung mittelalterlicher Textproduktionen.
Görge K. Hasselhoff