Monika E. Müller / Jens Reiche (Hgg.): Zentrum oder Peripherie? Kulturtransfer in Hildesheim und im Raum Niedersachsen (12.-15. Jahrhundert) (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; Bd. 32), Wiesbaden: Harrassowitz 2017, 544 S., 15 Kt., 6 Tbl., 16 Farb-, 90 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-10716-7, EUR 88,00
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Die Ergebnisse der vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur geförderten Forschungsprojekte "Der Bernward-Psalter und die Klosterbibliothek von St. Michael" und "Hildesheimer Buchmalerei des 12./13. Jahrhunderts", die Monika E. Müller an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel 2008-2013 durchgeführt hat, sind bereits in verschiedenen inhaltlich weiterführenden Bänden publiziert worden. [1] Nun liegen als weitere Publikation die Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung vor, zu der die Projektleiterin und der Kunsthistoriker Jens Reiche im Juni 2013 nach Wolfenbüttel eingeladen haben. Das zentrale Thema "Kulturtransfer" wurde dort gattungsübergreifend, diachron und interdisziplinär diskutiert.
Die Gliederung der Tagung in fünf Sektionen wurde auch für die Publikation übernommen: Die Abschnitte I. "Handel, Wegesystem, Produktionsgeschichte", II. "Wissens- und Bildungstransfer", III. "Netzwerke - Kirche, Klöster, Städte", IV. "Handschriftenproduktion" und V. "Kunstproduktion (Monumentalkunst)" unterteilen die 16 Beiträge des umfangreichen Sammelbandes. Ein Register, das neben Personen und Orten auch Sachbegriffe und die zitierten Handschriften auflistet, erschließt die Beiträge zusätzlich auf sinnvolle Weise.
Im ersten Abschnitt zum Themenkomplex "Handel, Wegesystem, Produktionsgeschichte" sind Beiträge zum Metallvorkommen im Harz (Bartels), zum Handelsnetz (Holbach) und zu Materialien für die Buchherstellung (Oltrogge, Schmidt) und zum Buchhandel (Nickel) in Niedersachsen versammelt. Hier offenbart sich, ganz dem Forschungsinteresse der gastgebenden Institution und der einladenden Forscher verpflichtet, ein Fokus auf der Gattung Buch. Der zweite Teil widmet sich dem "Wissens- und Bildungstransfer". Hier sind zwei Beiträge zu den Gelehrten im spätmittelalterlichen Hildesheim (Kändler) und zur Bibliothek von Clus (Lesser) zusammengestellt. Mit drei Beiträgen ist der Abschnitt zu "Netzwerke - Kirche, Klöster, Städte" etwas umfangreicher. Während Aschoff die Vernetzungen der Hildesheimer Klöster und Stifte des Hohen und Späten Mittelalters exemplarisch untersucht, konzentriert sich Kruppa auf familiäre Netzwerke des Hildesheimer Klerus. Am Beispiel von Goslar wird zudem die Stadt als Grundlage von Vernetzungen in den Blick genommen (Pötschke).
Die beiden folgenden Abschnitte fokussieren die künstlerische Produktion im Hildesheimer Umkreis. Erneut liegt der Schwerpunkt zunächst auf der Buchmalerei, wie in der Sektion "Handschriftenproduktion" deutlich wird, in der anhand von Manuskripten künstlerische Einflüsse und die innovative Kraft der Region Hildesheim untersucht werden (Müller, Braun-Niehr, Carmassi). Der Abschnitt "Kunstproduktion (Monumentalkunst)" erweitert diese Befundlage um Fragen zu Stuck (Rüber-Schütte/Scherf) und Glasmalerei (Kosina).
In ihrer Einleitung fokussieren Müller und Reiche zunächst das Begriffspaar "Zentrum" und "Peripherie", um es für die historische und kunsthistorische Forschung zu Niedersachsen und Hildesheim nutzbar zu machen. Sie verstehen es weniger topografisch als im Hinblick auf den quantitativen und qualitativen künstlerischen Output bestimmter Städte und Regionen (13). Wichtig sind in diesem Falle die Perspektiven auf Kommunikation und Diffusion, durch welche Zentrum und Peripherie miteinander verbunden sind (14). Gemeinsam mit der Begriffsschärfung im Hinblick auf den "Kulturtransfer" (15) zeigt dieser Abschnitt auf, welche Facetten eines Begriffs durch eine transdisziplinäre Auseinandersetzung aufscheinen können. Müller und Reiche machen hier besonders den Unterschied zwischen Austausch und Transfer stark. Während im ersten Fall gemeinhin die Reziprozität der Übertragung von Kultur kennzeichnend ist, verstehen die Herausgeber Kulturtransfer nicht erst als einen gezielten Umgang mit Kulturgut im Sinne einer Umdeutung, Anpassung und Nutzbarmachung, sondern bereits die belegte Anwesenheit an einem bestimmten Ort, was letztlich die Voraussetzung des Transfers selbst ist. Hiermit wird der Untersuchungsbereich geschickt ausgeweitet und ein Nachspüren allein des Potenzials von Netzwerken im Hinblick auf Transferprozesse theoretisch eingebettet. Die Erweiterung des Kulturtransferbegriffs wird in einigen, anschließenden Beiträgen besonders deutlich:
Der Montanhistoriker Christoph Bartels stellt mit seinem Beitrag die Bedeutung der Verfügbarkeit, des Abbaus und des Handels mit Erzen für den Kulturtransfer heraus. Dies lässt sich zum einen an der engen Beziehung des Klerus zu den Bergwerken festmachen, die vielfach in ihrem Besitz standen (41). Zum anderen floss in das Montanwesen das Wissen aus dem persisch-arabischen Raum ein, das dort angewendet und weiterentwickelt wurde (46). Die Montanregion als Rohstofflieferant für Kunstwerke, Münzen und Schmuck war eng an unterschiedliche geistliche und weltliche Netzwerke geknüpft (48).
Die Materialverfügbarkeit, allerdings zur Herstellung von Büchern, thematisiert auch Doris Oltrogge. Für das Hochmittelalter bleiben die Quellen für Hildesheim sehr unkonkret, sodass Oltrogge sich auf Essener Quellen aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert stützt. Hieran kann sie zeigen, welche Materialien das Werdener Skriptorium ankaufte. So kamen offenbar Materialien "aus allen Teilen der damals bekannten Welt" (90) zum Einsatz, die nicht nur über die Lage des Skriptoriums an einem Handelszentrum, sondern auch über überregionale Netzwerke beschafft wurden. [2]
Wolfram C. Kändler liefert auf der Grundlage der Matrikeln und Promotionsbücher eine umfangreiche Übersicht über Studienwege und Besitztümer der Hildesheimer Gelehrten des 15. Jahrhunderts. Mithilfe der Daten des Repertorium Academicum Germanicum kann er zeigen, welche Möglichkeiten der Auswertung eine solche Datensammlung bieten. Besonders im Hinblick auf Wissens- und Kulturtransfer sind die Biogramme der Gelehrten hilfreiche Anhaltspunkte, sodass Kändlers Zusammenstellung für das 15. Jahrhundert eine wichtige Diskussionsgrundlage liefert.
Nathalie Kruppas Beitrag beschäftigt sich mit den Netzwerken der Hildesheimer Domkanoniker und Bischöfe vom 12. bis 14. Jahrhundert. In einem quellenreichen Aufsatz stellt sie die Informationen zu diesem Personenkreis prägnant zusammen und fächert die institutionellen und familiären Netzwerke der Domkanoniker sorgfältig auf. Sie liefert damit einen guten Überblick über die Verflechtungen der Domherren und damit über die Wege, auf denen vermittels der Domkanoniker Kulturtransfer stattfand.
Im Gesamten liefert der Sammelband von Müller und Reiche eine umfassende Zusammenstellung der Aspekte von Kulturtransfer im mittelalterlichen Hildesheim und seinem Umland. Mit der interdisziplinären Ausrichtung ermöglicht der Band einen quellenstarken Einstieg in die feingliedrigen Vernetzungen der Kleriker, Händler und Künstler in Niedersachsen. Damit ergänzt dieser Tagungsband die bisher erschienenen und ebenso inhaltsreichen und anschlussfähigen Veröffentlichungen aus den Wolfenbütteler Forschungsprojekten in vortrefflicher Weise.
Anmerkungen:
[1] Monika E. Müller: Der Bernward-Psalter im Wandel der Zeiten. Eine Studie über Ausstattung und Funktion (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; Bd. 23), Wiesbaden 2013; Dies. / Christian Heitzmann (Hgg.): Einen Platz im Himmel erwerben. Bücher und Bilder im Dienste mittelalterlicher Jenseitsfürsorge (= Wolfenbütteler Hefte; Bd. 32), Wiesbaden 2012; Dies. (Hg.): Schätze im Himmel - Bücher auf Erden. Mittelalterliche Handschriften aus Hildesheim (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek; Bd. 93), Wiesbaden / Wolfenbüttel 2010.
[2] Die Bedeutung dieser Netzwerke hat auch das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Verbundprojekt "Innovation und Tradition. Objekte und Eliten in Hildesheim 1130-1250" erforscht. Die Ergebnisse sind zum Teil bereits veröffentlicht. Im Hinblick auf Netzwerke sind hier zum Beispiel die Forschungen zum Welandus-Reliquiar in Paris relevant: Dorothee Kemper / Klaus Gereon Beuckers (Hgg.): Das Welandus-Reliquiar im Louvre. Ein Hauptwerk niedersächsischer Emailkunst in interdisziplinärer Perspektive (= Objekte und Eliten in Hildesheim 1130-1250; Bd. 3), Regensburg 2018.
Esther-Luisa Schuster