Oskar Negt: Erfahrungsspuren. Eine autobiographische Denkreise, Göttingen: Steidl-Verlag 2019, 381 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-95829-522-3, EUR 28,00
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Nach der 2016 veröffentlichten autobiographischen Spurensuche Überlebensglück des Sozialphilosophen Oskar Negt ist nun die Fortsetzung Erfahrungsspuren erschienen. Die Kapitel des Buches sind fragmentarisch und nicht chronologisch zusammengefügt. Sie haben "autobiographische Motive" (9), sollen jedoch nicht der Form einer Autobiographie entsprechen. Folglich klammert Negt seine privaten Beziehungen aus. Sein Ziel ist es vielmehr, "bestimmte Charakterprägungen, die gelebten Erfahrungen entspringen, öffentlich kenntlich zu machen" (25).
Im Vorwort weist er darauf hin, dass die autobiographische Erzählung von theoretischen Reflexionen unterbrochen werde. Sie enthalte mit Blick auf das aktuelle gesellschaftliche Klima eine "zentrale Botschaft für die Gegenwart und für die Zukunft" (9). Zudem will das Buch zum "Nachdenken über das eigene Leben anregen" (11).
Als Einstieg dient Negt ein Einblick in seinen familiären Hintergrund und in sein (auto-)biographisches Schaffen, das 2014 mit einem dreimonatigen Aufenthalt in "exterritorialer Distanz" (21) in Wien begann. Im folgenden Kapitel schildert er seinen Weg nach Frankfurt am Main. Nach der Flucht aus Ostpreußen legte Negt 1955 in Oldenburg die Abiturprüfung ab. Es folgten "Irrwege" (43) des Jurastudiums in Göttingen und die kurze, bald Unbehagen auslösende Mitgliedschaft in einer Studentenverbindung. Zugleich begann aber auch eine intensive Auseinandersetzung mit Marx. Sie offenbarte Negt "Theoriewege" (47) und führte nach wenigen Monaten zu lebensgeschichtlichen Entscheidungen: der Mitgliedschaft im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und dem Umzug nach Frankfurt, um Soziologie und Philosophie zu studieren. Er war fasziniert zunächst von Max Horkheimer und schließlich auch von Theodor W. Adorno, bei dem er einschneidende "Bildungserlebnisse" (59) hatte. Sie führten zur lebenslangen Beschäftigung mit Immanuel Kant und Karl Marx. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zur Kritischen Theorie.
Ein Blick fällt auf die Assistentenzeit bei Jürgen Habermas, dem Negt 1962 im Anschluss an die Promotion bei Adorno nach Heidelberg folgte. Dort waren - wie vielerorts - die Kontinuitäten zum nationalsozialistischen Deutschland spür- und sichtbar. Dennoch wurde diese Zeit für Negt zu den "intensivsten und befriedigendsten Phasen" (98) seines akademischen Lebens. Es entwickelte sich eine bis heute andauernde freundschaftliche Beziehung zu dem Professor, der seinem Assistenten - trotz mancher Diskrepanzen - ein hohes Maß an Autonomie einräumte.
Im nachfolgenden Kapitel wiederholt Negt seine deutliche Abgrenzung zur terroristischen Gewalt der RAF. Seine wiederabgedruckte Rede beim Angela-Davis-Kongress 1972 dokumentiert diese Haltung. Anschließend erneuert er seine Kritik an den Teilen der Linken, die sich nicht eindeutig von der RAF distanzierten.
In Bezug auf die Kritische Theorie diskutiert Negt die Genese und das Wesen philosophischer Schulen, denen er eine große intellektuelle Breite zu geben versucht. Er zählt den frühen Lukács, Korsch, Bloch, Sartre und weitere zu einer "Frankfurter Schule" in einem "erweiterten Sinne" (208).
Im Abschnitt zum akademischen Leben reflektiert Negt selbstkritisch, warum eine Nachfolge auf Adornos Lehrstuhl scheiterte. Er blickt zurück auf die ersten Lehrerfahrungen in Heidelberg und Frankfurt. Die umstrittene, aber formal korrekte Berufung Negts auf eine Professur 1970 an der damaligen Technischen Hochschule Hannover bedingte, dass die neuen Kollegen ihn mit eisiger Kälte empfingen - oder sogar ihrerseits kündigten (219). Nichtsdestotrotz entwickelte sich Hannover zu einer Heimat, wo Negt schließlich über vier Jahrzehnte wirkte. Außerdem unterstreicht er die Bedeutung der Lehre in Form seiner frei gehaltenen Vorlesungen, um "eigene Denkprozesse öffentlich sichtbar" (226) zu machen.
In einem weiteren Kapitel thematisiert Negt seine praktische Arbeit, vor allem die gewerkschaftliche Bildungsarbeit, der er sich seit Anfang der 1960er Jahre als Assistent an einer Gewerkschaftsschule widmete. In seinem einige Jahre später erschienenen Buch Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen gab er ihr ein theoretisches Fundament. Seine Arbeit im SDS und seine Rolle in der Protestbewegung der 1960er Jahre beleuchtet er hingegen nur spärlich. Nach dem Zerfall des SDS setzte Negt die Theoriearbeit im Sozialistischen Büro in Offenbach und der von ihm herausgegebenen Zeitschrift links als "Organisationsform des überfraktionellen Bewusstseins" (268) fort. Negt zählte 1972 auch zu den Gründern der antiautoritären, vom Staat finanzierten Glocksee-Schule in Hannover, in der das exemplarische Lernen einen Grundpfeiler darstellte. Das Kapitel endet mit einem Einblick in die "philosophische Politikberatung" (278) zu Beginn der 1980er Jahre. Negt resümiert: "Linke Beratungspolitik im politischen Zusammenhang [...] ist zwar nützlich für den Machterwerb, stört aber den Machterhalt" (277).
Das folgende Kapitel widmet Negt der fast 50-jährigen Zusammenarbeit mit Alexander Kluge. Dabei entstanden Arbeiten wie Öffentlichkeit und Erfahrung und Geschichte und Eigensinn als einer "gemeinsame[n] Philosophie" (297). Negt gewährt hier konkrete, fast schon intime Einblicke in die "Denkwerkstatt" (298), wo die Texte gemeinsam formuliert und diktiert werden.
Zum Ende legt Negt sein Verständnis Marxscher Theorie und deren Bezug zum Sozialismus dar. Mit der Kritik aktueller gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse im letzten Kapitel schlägt er die Brücke zum Anfang des Buches. In Hinblick auf die Verwahrlosung gesellschaftlicher Verhältnisse warnt er deutlich: "Der Krieg beginnt im Denken" (357).
Der zweite Teil von Negts Spurensuche ist ein facettenreiches Buch. Es ist mehr als eine Autobiographie. Negt warnt angesichts der aktuellen Situation: "Die Geschichtszeichen stehen auf Sturm." (324) Inhaltliche Wiederholungen treten auf, stören aber die Lektüre nicht. Leider kommt aber Negts politische Arbeit im Frankfurter SDS als Teil der Außerparlamentarischen Opposition - insbesondere in den Jahren von 1967 bis 1969 - etwas zu kurz. Beim Rückblick auf sein akademisches Wirken in Hannover legt Negt den Fokus auf seine Vorlesungen, "die ganze Studentengenerationen angelockt und zum Nachdenken angeregt haben" (228). Die konkrete Arbeit mit den Gefährten, die Negt 1970 aus Frankfurt nach Hannover folgten, um die Kritischen Theorie zu erneuern, oder gar eine Hannoveraner Schule zu gründen, bleibt unerwähnt [1]. Zahlreiche Kollegen, Mitarbeiter und Schüler aus jahrzehntelanger akademischer Tätigkeit wie z. B. Regina Becker-Schmidt, Detlev Claussen, Ronny Loewy oder Joachim Perels tauchen nicht auf. Dabei hatte Negt 1999 in der Einleitung zur ersten Ausgabe der u.a. von ihm herausgegebenen Hannoverschen Schriften hervorgehoben, "dass Hannover seit einem Vierteljahrhundert zu einem kontinuierlichen Produktionsort der Kritischen Theorie geworden ist" [2]. Warum die Zeit in Hannover trotzdem nur marginal abgehandelt wird, bleibt offen und ist ein Makel eines sonst durchaus lesenswerten Buches.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Detlev Claussen: Oskar Negt zum 80. Geburtstag. Arbeit und menschliche Würde, in: Faustkultur. wwweltbühne für Autoren und Künstler, Frankfurt/M. 2014 (https://faustkultur.de/1884-0-Oskar-Negt-zum-80-Geburtstag.html); Vgl. Muharrem Açıkgöz: Die Permanenz der Kritischen Theorie. Eine Bestandsaufnahme der zweiten Generation. Dissertation, Universität Trier 2011, 194.; Vgl. Frank Kuhne: 25 Jahre Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften an der Universität Hannover, Hannover 1996, 117-174.
[2] Oskar Negt: Über Sinn und Unsinn philosophischer Schulbildungen, in: Detlev Claussen / Oskar Negt / Michael Werz (Hgg.): Keine Kritische Theorie ohne Amerika. Hannoversche Schriften, Bd. 1, Frankfurt/M. 1999, 24.
Gregor-Sönke Schneider