Ethan L. Menchinger: The First of the Modern Ottomans. The Intellectual History of Ahmed Vâsιf (= Cambridge Studies in Islamic Civilization), Cambridge: Cambridge University Press 2017, xxx + 319 S., ISBN 978-1-107-19797-8, GBP 78,99
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Haim Gerber: State and Society in the Ottoman Empire, Aldershot: Ashgate 2010
Dimitris J. Kastritsis: The Sons of Bayezid. Empire Building and Representation in the Ottoman Civil War of 1402-13, Leiden / Boston: Brill 2007
Douglas A. Howard: Das Osmanische Reich 1300-1924. Aus dem Englischen von Jörg Fündling, Stuttgart: Theiss 2018
Ali Yaycioglu : Partners of the Empire. The Crisis of the Ottoman Order in the Age of Revolutions, Stanford, CA: Stanford University Press 2016
François Georgeon / Frédéric Hitzel: Les Ottomans et le temps, Leiden / Boston: Brill 2012
Für das Osmanische Reich stellte das 18. Jahrhundert eine ereignisreiche Zeit dar, die von der Expansionspolitik der europäischen Großmächte und den sozioökonomischen Umwälzungen in den Provinzen des Reiches geprägt wurde. Vor allem durch die militärischen Auseinandersetzungen mit den Russen, die für das Osmanische Reich verheerend endeten, waren die Osmanen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gezwungen, ihre gesellschaftspolitischen Prämissen zu hinterfragen. Die osmanische Regierung unterzog sich einer kritischen Reflektion, bei der osmanischen Staatsmänner entscheidende Akzente für eine erfolgreiche osmanische Zukunft setzen mussten. Osmanische Intellektuelle waren erstmalig gefordert, ihr Selbstverständnis und ihren Platz in der Welt zu hinterfragen. Ethan L. Menchinger beschreibt in dem hier zu besprechenden Buch - einer stark modifizierten Fassung seiner 2014 an der University of Michigan erfolgreich verteidigten Dissertation "An Ottoman Historian in an Age of Reform: Ahmed Vâsιf Efendi" - aus der Perspektive des Schriftgelehrten Ahmed Vâsιf, wie der osmanische Staat mit den Herausforderungen dieser Zeit umging und wie die osmanischen "ιntellektuellen" versuchten, passende Antworten auf die drängenden Fragen der Epoche zu finden.
Bisher gibt es noch nicht sehr viele Monographien über Bürokraten oder Schriftgelehrte des Osmanischen Reichs im 18. Jahrhunderts. Ethan L. Menchinger hat nun dankenswerterweise eine innovative wissenschaftliche Arbeit vorgelegt, die sich der schwierigen Aufgabe widmet, das Leben des Schriftgelehrten Ahmed Vâsιf zu rekonstruieren. Neben der Nutzung unterschiedlicher zeitgenössischer Literatur stützt sich Menchinger bei seiner Biographie auf die Schriften Ahmed Vâsιfs, insbesondere auf sein mehrbändiges Hauptwerk Mehâsinüʿl-Âsâr ve Hakâîküʿl Ahbâr (Die Reize der geschichtlichen Hinterlassenschaften und die Wahrheiten der historischen Berichte). Der Autor rekonstruiert Vâsιfs Leben chronologisch und kontextualisiert wichtige Wendepunkte unter Berücksichtigung der jeweiligen Zeitumständen. Die Studie ist in acht Kapitel unterteilt, in denen nach einer allgemeinen Einleitung jeweils die politischen Ereignisse analysiert und diese dann in Beziehung zu Ahmed Vâsιfs Leben gesetzt werden.
Im ersten Kapitel ["Out of the East: Early Life (ca. 1735-1768)", 13-55] beleuchtet der Autor den Geburtsort Ahmed Vâsιfs, seinen familiären Hintergrund sowie seine Hinwendung zu Literatur. Ahmed Vâsιf wurde 1735 in Bagdad geboren. 1761/62 studierte er in Aleppo, bevor er ab 1766 Reisen in Anatolien und Studien in Van und Kars unternahm. Menchinger erläutert, warum sich der junge Osmane für den Beruf des Schreibers entschied und wie der Karriereweg eines Sekretärs aussah. Zudem beschreibt er, welche Perspektiven junge Osmanen im Bagdad des 18. Jahrhunderts hatten und hebt dabei die Machtdynamiken der lokalen Herrscher hervor. Die Integration der Provinzen in den osmanischen Zentralstaat nennt er als eine der größten Herausforderungen dieser Zeit.
Im zweiten Kapitel ["At War (1768-1774)", 56-62] befasst sich Menchinger mit dem Krieg zwischen dem Osmanischen Reich und Russland sowie mit dessen Folgen für die Hohe Pforte. Ahmed Vâsιf war zu diesem Zeitpunkt bereits im Staatsdienst tätig und übernahm eine führende Rolle bei den Friedensverhandlungen für den Vertrag von Küçük Kaynarca (1774). Zuvor war er als Privatsekretär von Abaza Mehmed Paşas Zeuge der osmanischen Niederlagen bei Falça, Kartal und İsmail geworden. Er wurde sogar von den Russen gefangengenommen und nach St. Petersburg gebracht. Im Herbst 1771 ließ ihn Katharina II. frei und schickte ihn mit Friedensvorschlägen zurück in das osmanische Heerlager. Er selbst begab sich daraufhin nach Istanbul, wo er in Abdürrezzâk Bâhir Efendi einen neuen Patron fand. Kurze Zeit später gab ihm der Großwesir Muhsinzâde Mehemed Paşa den Posten eines leitenden Beamten im höfischen Korrespondenzbüro. Nachdem die Friedensgespräche bei Foksani gescheitert waren, reiste Ahmed Vâsιf in offizieller Mission in das russische Lager, um einen Waffenstillstand mit Feldmarschall Rumiantsev auszuhandeln. 1772/73 schloss sich Ahmed Vâsιf bei der 2. Runde der Friedensverhandlungen in Bukarest Abdürrezzâk Bâhir Efendi als Verhandlungsunterführer an. Am letzten Feldzug des Krieges und der Schlacht von Kozluca im Juni 1774 nahm er ebenfalls teil. Der anschließend ausgehandelte Vertrag von Küçük Kaynarca hielt erhebliche territoriale Verluste seitens der Osmanen fest, wurde jedoch gleichzeitig zum Ausgangspunkt für die "Neue Ordnung" (nizâm-ι cedît).
Im folgenden Kapitel ["Years of Faction and Reform (1774-1787)", 63-106] führt Menchinger aus, wie osmanische Staatsmänner anfingen zu realisieren, dass die verlorenen Territorien endgültig verloren waren. Er beschreibt aus der Perspektive der Osmanen die Zerrissenheit der Elite und die Suche nach Antworten auf die neu entstandenen Fragen. Viele osmanische "Intellektuelle" wünschten sich eine Wiederbelebung der "alten Ordnung" (kanun-ι kadim). Andere wiederum glaubten an die Rückständigkeit der alten Methoden und setzten sich für neue Ideen und Reformen ein. Ahmed Vâsιf stand nach Menchinger zwischen diesen beiden Lagern. Als Pragmatiker unterstützte er zunächst die alte Ordnung und wurde dann, nachdem er die Notwendigkeit wesentlicher Reformen während der militärischen Auseinandersetzungen mit eigenen Augen gesehen hatte, ein leidenschaftlicher Befürworter des Wandels. Als es zwischen 1774 und 1779 zu Neuordnungen am Hofe kam, fiel Ahmed Vâsιf offenbar in Ungnade und wurde bei der Vergabe der Posten nicht berücksichtigt. Im Oktober 1779 erhielt er dann über Abdürrezzâk Bâhir Efendi eine Position als Erster Festungsbaumeister. Nach dem Tode seines Patrons, der sich unglücklicherweise zuvor mit dem Großwesir überworfen hatte, bekam Ahmed Vâsιf keine neue Anstellung. Erst 1782 übergab ihm der neue Großwesir Halil Hamid Paşa die Leitung der Kanzlei für Äußere Angelegenheiten. 1783 wurde Vâsιf zum ersten Mal Hofgeschichtsschreiber. 1784 erwarb er Müteferrikas alte Druckpresse und veröffentlicht damit in der Folgezeit zusammen mit Râşid Mehmed Efendi eine Reihe wichtiger Chroniken. 1786 kam es zum Bruch zwischen den beiden. Vâsιf wurde entlassen und nach Spanien gesandt.
Im Vierten Kapitel ["Honorable Exile": ιn Spain (1787-1788)", 107-131] wird der Aufenthalt Ahmed Vâsιfs auf der iberischen Halbinsel beschrieben. Menchinger erläutert umfassend das unilaterale Diplomatensystem der Osmanen und gibt einen Überblick über einige Aspekte der osmanischen Diplomatie. Er geht der Frage nach, ob der Aufenthalt in Europa einen Einfluss auf die späteren Reformgedanken Ahmed Vâsιfs hatte. Ahmed Vâsιf entpuppt sich als ein etwas engstirniger Muslim, der an die Überlegenheit seiner Zivilisation glaubte und für die Europäer nicht sehr viel Sympathie hatte. Diese Haltung spiegelt sich auch in seinem Reisebericht (sefâretnâme) wider.
Das fünfte Kapitel ["At War (1788-1792)", 132-163] behandelt den zweiten Krieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie die Machtübernahme Sultan Selims ιιι. (reg. 1789-1806). Menchinger stellt den neuen Sultan ausführlich vor. Dabei lehnt er entschieden ab, Selim als aufgeklärten Absolutisten zu betrachten, da die Idee seiner Reformen auf der Überzeugung beruhte, dass das Osmanische Reich die richtige "Weltordnung" repräsentiere. Während der Beschreibung des Krieges zieht Menchinger mehrmals Parallelen zum ersten osmanisch-russischen Krieg. Obgleich das osmanische Heer dieses Mal in militärischen Taktiken nach europäischem Vorbild geschult worden war, war man den russischen Armeen dennoch erneut nicht gewachsen. Ahmed Vâsιf hatte unterdessen eine Anstellung im Schatzamt in Istanbul gefunden. 1790 machte ihn der neue Sultan zum stellvertretenden Hofchronisten. Im März 1791wurde er an die Front berufen, wo er Koca Yusuf Paşa als Kurier diente. Am Ende handelte er einen Waffenstillstand mit Nikolai Repnin aus. Im September entsandte man ihn nach Belgrad. 1792 berief ihn Selim zurück nach Istanbul, gab ihm aber dort keinen Posten.
Das darauffolgende Kapitel ["Vâsιf and the New Order (1792-1800)", 164-207] befasst sich mit den Aktivitäten Vâsιfs während der Reformzeit. Der Schriftgelehrte hatte zunächst keine offizielle Stellung und war von den Ereignissen in dieser Zeit sowie von den Umsetzungen der Reformen ausgeschlossen. Vasιf widmete sich daher in erster Linie dem Schreiben. Wahrscheinlich 1793 verfasste er ein lexikographisches Werk und edierte Mehmed Hayrîs Gedichte. Er selbst konnte sich in dieser Zeit auch als Dichter einen Namen machen. Im Mai 1793 fand er wieder eine Tätigkeit in der Administration und wurde zum dritten Mal Hofchronist. Er legte nach einigen Monaten die erste Fassung der Mehâsinüʿl-Âsâr ve Hakâîküʿl Ahbâr vor. Als sich 1794 Râşid Mehmed Efendi mit Tatarcιk Abdullah Efendi befehdete, geriet auch Ahmed Vâsιf ins Visier. Er wurde entlassen und ins Exil nach Lesbos geschickt. 1795 durfte er wieder zurückkehren und im Schatzamt arbeiten. 1796 wurde er jedoch bei der alljährlichen Postenvergabe unberücksichtigt gelassen. Im nächsten Jahr erhielt er noch einmal ein Amt, 1798 überging man ihn erneut. Im Juli marschierten die Franzosen in Ägypten ein. Bei dieser Gelegenheit entwarf er für den Sultan einen "Brief des tröstenden Zuspruchs". 1799 überantwortete man ihm noch einmal die Position des offiziellen Hofchronisten. Es entstand die zweite Fassung der Mehâsinüʿl-Âsâr ve Hakâîküʿl Ahbâr.
Im vorletzten Kapitel ["The Hight of Fame (1800-1806)", 208-56] erreichte Ahmed Vâsιf den Höhepunkt seiner Karriere. 1800 legte er den zweiten Band seiner Chronik vor. Im Februar 1801 erfolgte allerdings wieder seine Entlassung. Sein Haus brannte zudem nieder, so dass er nach çamlιca übersiedelte. Der Sultan beauftragte ihn, die Werke der Chronisten Hâkim und çeşmizâde zu überarbeiten. 1802 nahm Selim die Überarbeitungen an und ließ ihn das Werk von Enverî herausgeben. Der Historiker folgte der Aufgabe und schrieb darüber hinaus ein eigenes Geschichtswerk mit dem Titel "Die Taten von Hüseyin Paşa". 1803/04 ließ ihn Selim eine Verteidigung seiner Reformen verfassen. 1804/05 druckte er eine Überarbeitung seiner früheren Chroniken als Band 4 seiner Mehâsinüʿl-Âsâr ve Hakâîküʿl Ahbâr. Selim forderte von ihm einen fünften Band. Zu Beginn des Jahres 1806 musste Vasιf von seinem Posten als Hofchronist zurücktreten. Im Oktober starb er.
Im Epilog ["Vâsιf as Ancient and Modern", 257-262] zieht Menchinger Bilanz über das Leben seines Protagonisten. Er betont, dass Vâsιf zu den herausragenden osmanischen Schriftgelehrten des 18. Jahrhunderts gehört und erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass der Staatsmann Teil derjenigen Generation war, die sich erstmalig in der Geschichte des Osmanischen Reiches ernsthaft mit dem Niedergang der vorherrschenden Ideologie konfrontiert sah.
"The First of the Modern Ottomans: The Intellectual History of Ahmed Vâsιf" stellt eine informative und interessante Studie über einen bedeutenden Schriftgelehrten im Osmanischen Reich des 18 Jahrhunderts dar. Menchinger zeichnet detailliert den typischen gewundenen und mühsamen Verlauf der Karriere eines osmanischen "Intellektuellen" und Staatsmannes nach. Anhand der Lebensgeschichte von Ahmed Vâsιf kann er dem Leser vor Augen führen, welche Schritte nötig waren, um in der osmanischen Bürokratie zu überleben. Zudem bietet diese Arbeit eine anschauliche Übersicht über die politische Geschichte des Osmanischen Reiches von 1735 bis 1806 und gewährt einen neuen Einblick in die Ereignisse dieser Zeit.
Jale Meltem Dramali / Stephan Conermann