Rezension über:

Florian Lebkücher: Die Grafschaft Tecklenburg und die Justizreform von 1613 (= Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte; Bd. 31), Münster: Aschendorff 2018, 236 S., ISBN 978-3-402-15079-5, EUR 44,00
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Rezension von:
Stefan Stodolkowitz
Karlsruhe
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Stodolkowitz: Rezension von: Florian Lebkücher: Die Grafschaft Tecklenburg und die Justizreform von 1613, Münster: Aschendorff 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 9 [15.09.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/09/32574.html


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Florian Lebkücher: Die Grafschaft Tecklenburg und die Justizreform von 1613

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Die historische und rechtshistorische Wissenschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten - zunehmend interdisziplinär ausgerichtet - wegweisende Erkenntnisse über die Gerichtsbarkeit in der Frühen Neuzeit gewonnen. Nachdem zunächst das Reichskammergericht (RKG) und der Reichshofrat im Mittelpunkt standen, hat sich das Forschungsinteresse inzwischen vermehrt auch der Gerichtsbarkeit unterhalb der Reichsebene zugewandt. Dies entspricht der Einsicht, dass, unbeschadet des Einflusses der höchsten Reichsgerichte, die unteren Instanzen und vor allem die Gerichte der erstarkenden Territorien für das Rechtsleben oft bedeutender waren. Denn die meisten Streitigkeiten wurden nicht in Speyer, Wetzlar oder Wien ausgetragen, sondern vor den in ihrer Vielfalt unüberschaubaren nachgeordneten Gerichten. [1] Dabei ist die Institutionalisierung der Justiz in den Territorien untrennbar mit der Entstehung und Verfestigung staatlicher Herrschaft verbunden. [2]

Diese Überlegungen sind auch der Ausgangspunkt der bei Bernd Kannowski in Bayreuth entstandenen Dissertation von Florian Lebkücher, die die Justizreform in der Grafschaft Tecklenburg aus dem Jahr 1613 zum Gegenstand hat. Untersucht und in ihrem Inhalt dargestellt werden vor allem die Tecklenburger Landgerichtsordnung (LGO) von 1613, die Hofgerichtsordnung (HGO) aus demselben Jahr, eine Policeyordnung von 1612 und eine frühere Gerichtsordnung von 1564. Grundlage der Arbeit sind damit fast ausschließlich normative Quellen. Archivalische Quellen sind offenbar nur lückenhaft überliefert; insbesondere konnten keine Gerichtsakten ausgewertet werden. Diese Beschränkung auf normative Quellen ist, wie der Verfasser selbst erkennt (15), problematisch. Denn Recht und Gerichtswesen in der Frühen Neuzeit können allein auf der Grundlage normativer Quellen nicht zuverlässig beurteilt werden. Im Zeitalter eines usualen Rechtsverständnisses konnte sich die Rechtspraxis abweichend von normativen Rechtssätzen entwickeln; Recht beruhte vor allem auf der tatsächlichen Rechtsanwendung, der sogenannten Observanz. [3] Diese Ebene erfasst der von Lebkücher verfolgte Ansatz naturgemäß kaum.

Zunächst schildert der Verfasser in einem umfangreichen einleitenden Teil die Entwicklung der Herrschaft in der Grafschaft Tecklenburg seit dem Mittelalter und geht dabei auch auf die vor 1613 bestehende Gerichtsverfassung ein (46-49), an die die Justizreform anknüpfte und die, für die Frühe Neuzeit nicht überraschend, nicht normativ geregelt war. Neben den hergebrachten Gogerichten muss es schon vor 1613 einen Vorläufer des Hofgerichts gegeben haben (49, 88). Leider erfährt man darüber, vermutlich bedingt durch die lückenhafte Überlieferung, nichts genaues. Die naheliegende Frage, wie sich die neue HGO von 1613 in die Entwicklung des Gerichtswesens und in dessen bis dahin bestehende Strukturen einordnen lässt, ist deshalb nicht abschließend zu beantworten. Jedenfalls war mit der Justizreform die "Schaffung einer Appellationsinstanz" (62) nach dem Vorbild des RKG bezweckt; dies erschien im Hinblick auf die Vorgaben des Speyerer Deputationsabschieds von 1600 dringlich (55). Vor 1613 hatte die gräfliche Kanzlei in Bentheim über Appellationen gegen Urteile der Untergerichte entschieden (114f.). Die Justizreform kann sich im übrigen positiv auf das Wirtschaftsleben ausgewirkt haben (64f.). Hier wäre indes eine Berücksichtigung neuerer Forschungen zu ökonomischen Aspekten des Gerichtswesens wünschenswert gewesen. [4]

Nach einer allgemeinen Darstellung der untersuchten Quellen und Überlegungen zu ihren wahrscheinlichen Urhebern widmet sich der Verfasser ihrem Inhalt, den er eingehend schildert. Zunächst wendet er sich den am Gerichtsverfahren beteiligten Personen zu und sodann der Ausgestaltung des zivilgerichtlichen Verfahrens in erster Instanz. Während die Gerichtsordnung von 1564 und die LGO von 1613 keine Regelungen zur Qualifikation der Richter und Beisitzer enthielten, sollten nach der HGO von 1613 von fünf Assessoren zwei dem Adel entstammen und drei Rechtsgelehrte sein (92). Das gelehrte Element setzte sich also zuerst am Hofgericht durch. Hier wäre freilich interessant, wie viele der Assessoren, vielleicht auch schon vor 1613, tatsächlich rechtskundig waren; allein anhand der normativen Vorgaben kann nicht beurteilt werden, wie diese in der Rechtspraxis umgesetzt wurden.

Das Verfahren folgte weitestgehend den Grundsätzen des gemeinen Zivilprozesses und entsprach vielfach dem Vorbild des RKG. Die Gerichtsordnungen regelten ein ausgefeiltes System aufeinander folgender Termine und sahen ein einfacheres Verfahren für bestimmte außerordentliche Sachen vor. Nach der HGO von 1613 gab es wie am RKG ein Mandatsverfahren, während ein solches in den anderen Gerichtsordnungen nicht vorgesehen war (157-162). Das muss allerdings nicht zwingend bedeuten, dass nicht auch die anderen Gerichte in der Praxis ähnliche Verfahrensarten entwickelt haben können.

Des Weiteren schildert der Verfasser die Regelungen zum Kontumazialverfahren, zu Widerklage und Intervention, zur Kostentragung sowie zu Rechtsmitteln und Zwangsvollstreckung. Abschließend wendet er sich dem Strafverfahren zu, das die LGO von 1613 im Rahmen einer peinlichen Halsgerichtsordnung regelte, die überwiegend auf die Carolina Kaiser Karls V. von 1532 Bezug nahm.

Die Tecklenburger Justizreform bietet ein anschauliches Beispiel territorialer Gerichtsordnungen in der Zeit der zunehmenden Institutionalisierung und Professionalisierung der Justiz. Die Studie lädt deshalb zum Vergleich [5] mit Gerichten anderer Territorien ein. Durch die Beschränkung auf die Untersuchung normativer Quellen und die weitgehende Ausblendung der Rechtspraxis werden manche Fragen jedoch nicht beantwortet, weil offen bleibt, ob das tatsächliche Sein dem normativen Sollen entsprach. [6]


Anmerkungen:

[1] Anja Amend-Traut / Josef Bongartz / Alexander Denzler / Ellen Franke / Stefan A. Stodolkowitz: Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften. Annäherungen und Perspektiven, in: Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 73), hgg. von dens., Köln / Weimar / Wien 2019 (im Erscheinen), unter 1.1.

[2] Zur Bedeutung der Gerichtsbarkeit als "Inbegriff aller Herrschaftsrechte" Barbara Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, 28; Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl. München 2003, 281f.; Dietmar Willoweit: Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit (= Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte; Bd. 11), Köln / Wien 1975, 17-47, 186-213.

[3] Peter Oestmann: Rechtsvielfalt, in: Gewohnheit. Gebot. Gesetz. Normativität in Geschichte und Gegenwart: eine Einführung, hgg. von Nils Jansen / ders., Tübingen 2011, 99-123 (hier 116); Thomas Simon: Geltung. Der Weg von der Gewohnheit zur Positivität des Rechts, in: Rechtsgeschichte 7 (2005), 100-137.

[4] Siehe insbesondere Michael Ströhmer: Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn. Institutionen - Ressourcen - Transaktionen (1650-1800) (= Westfalen in der Vormoderne; Bd. 17; Paderborner Historische Forschungen; Bd. 17), Münster 2013.

[5] Zur vergleichenden Perspektive siehe Amend-Traut (u.a.) wie Anm. 1, unter 1.2.

[6] Vgl. aus methodischer Sicht Peter Oestmann: Normengeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Praxisgeschichte. Drei Blickwinkel auf das Recht der Vergangenheit, in: Max Planck Institute for European Legal History Research Paper Series 6 (2014), 1-10 (hier 3), verfügbar unter http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2526811 (abgerufen am 26. Juli 2019).

Stefan Stodolkowitz