Florian Neumann: Die Wahrheit über Lucrezia Borgia, Stuttgart: Reclam 2019, 239 S., 14 Farbabb., ISBN 978-3-15-011205-2, EUR 20,00
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Arthur Field: The Intellectual Struggle for Florence. Humanists and the Beginnings of the Medici Regime, 1420-1440, Oxford: Oxford University Press 2017
Tobias Daniels / Franz Fuchs / Andreas Rehberg (Hgg.): Ulrich von Hutten und Rom. Deutsche Humanisten in der Ewigen Stadt am Vorabend der Reformation, Wiesbaden: Harrassowitz 2021
Angela Dressen / Klaus Pietschmann (eds.): The Badia Fiesolana. Augustinian and Academic locus amoenus in the Florentine Hills, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2016
Der Titel suggeriert sensationelle Enthüllungen: zum fünfhundertsten Todestag am 24. Juni 1519 endlich Fakten und nichts als Fakten zu einer der schillerndsten und von zahlreichen Legenden umrankten Frauengestalten der europäischen Geschichte! Davon kann - um ein ernüchterndes Fazit vorwegzunehmen - keine Rede sein: Die hier vorgelegte Lebensbeschreibung der Papsttochter bietet, weder was die Protagonistin noch die Ereignisse oder ihre Interpretationen betrifft, etwas Neues. Im Gegenteil: der Verfasser hält sich an manchen Schlüsselstellen seines Narrativs in der für jede Geschichte der Borgia ausschlaggebenden Frage: Tatsachen, üble Nachrede oder Mischung aus facts und fakes, sogar auffallend bedeckt, etwa bei den genügsam bekannten Skandalnotizen des päpstlichen Zeremonienmeisters Johannes Burckard über die Orgien im Vatikan (169). Hier und in manchen ähnlichen Fällen erlaubt eine systematische Kritik der Quellen eben doch eine Unterscheidung - mit dem Ergebnis, dergleichen Nachrichten definitiv ins Reich der schwarzen Mythenbildung zu überweisen. Speziell im Falle Lucrezias sind die alten Schauergeschichten von Inzest und Giftmischerei, die Literatur und Malerei im 19. Jahrhundert so heftig entflammt haben, ja längst vom Tisch. Daran schließt sich ein weiteres Fazit an: Um eine wissenschaftliche Publikation im engeren Sinne handelt es sich bei Neumanns Buch nicht; so wird Ferdinand Gregorovius' Lucrezia-Biografie, die die negative Mythenbildung zur angeblich unseligsten Frauengestalt der neueren Geschichte auf die Spitze treibt, sowie weitere Literatur aus der - im Falle der Borgia sehr ausgedehnten - Grauzone zwischen seriöser und romanhafter Präsentation teilweise unkritisch herangezogen.
Doch hält sich der daraus resultierende Schaden in engen Grenzen. Ja, insgesamt kommt auf diese Weise sogar eine ziemlich ausgewogene, durch umfangreiche Quellenzitate anschauliche und durch die ausgiebige Schilderung von Zeremonien und Festen farbige Darstellung der Zeit und ihrer Hauptakteure zustande, die vor allem für "Borgia-Neulinge" durchaus zur Einführung in die Materie geeignet ist. Allerdings nimmt die Tiefenschärfe der Erzählung in dem Maße ab, in dem sie sich von der Protagonistin entfernt. So bleibt der Pontifikat Alexanders VI. mit seinem Crescendo der Normenausweitungen, Normenüberschreitungen und Normenbrüche als Hintergrund der Vita insgesamt eher blass. Bedauerlich ist zudem, dass der römische Erzählstrang nach Lucrezias Heirat mit dem Este-Erben und ihrer Übersiedlung nach Ferrara fast völlig abbricht, so dass die für die Zeitgenossen verstörende Eskalation von Gewalt und Terror am Tiber und in der Romagna während der Jahre 1502 und 1503 weitgehend ausgeblendet wird, obwohl sie für das Image der Papsttochter folgenreich ist. Vollends verwischen die Konturen, wenn von weiter entfernten Ereignissen, etwa von den Auseinandersetzungen Savonarolas mit Alexander VI. in Florenz, berichtet wird. So fand die vom ferraresischen Bußprediger monierte Kardinalsernennung nach der Vertreibung der Franzosen aus Italien nicht, wie angegeben, 1494, sondern erst im Februar 1496 statt. Noch gravierender ist die Kennzeichnung von Alexanders Nachfolger Pius III. als Borgia-affin - als Kardinal Francesco Todeschini-Piccolomini hatte der Übergangs-Pontifex (er starb schon nach knapp vier Wochen im Oktober 1503) zur wertkonservativen Opposition gegen die Herrschaft des Clans aus Xátiva gehört und diese Haltung durch seine Abwesenheit von Rom auch deutlich genug manifestiert.
Das Leitmotiv aller neueren Lucrezia Borgia-Biografien lautet, den zeitgenössischen Quellen wie den Werten des 21. Jahrhunderts gleichermaßen entsprechend: Nach Jahren der Fremdbestimmung durch Vater und Bruder, gegen deren Dominanz allenfalls symbolischer Widerstand möglich ist, gelingt ihr eine allmähliche und schließlich glanzvolle Emanzipation als Partnerin ihres Gatten, Herzog Alfonsos, an dessen Seite und nicht selten auch an dessen Stelle sie wichtige Aufgaben als Regentin des Herzogtums Ferrara übernimmt. Diesem durchaus zutreffenden Entwicklungsschema folgt auch die vorliegende Lebensbeschreibung, die allerdings das Schwergewicht eher auf die familiäre als auf die kultur- und wirtschaftspolitische Rolle der Herzogin legt. Neuere Untersuchungen haben im Gegensatz dazu Lucrezias Initiativen im Bereich der Ökonomie, etwa durch planmäßige Bonifizierungen im ferraresischen Po-Sumpfland, hervorgehoben. Auch über ihre systematische Ausgestaltung des Hoflebens, zum Beispiel durch die Zelebrierung ostentativer Frömmigkeit, wäre nach heutigem Kenntnisstand mehr zu sagen.
Ein großes Plus des vorliegenden Buches ist, dass die Biografie nicht mit dem Tod der Protagonistin schließt, sondern ihr bewegtes Nachleben miteinbezieht, das sie überhaupt erst über Lebenszeit und Lebensraum hinaus prominent macht und ihr 2012 sogar einen Auftritt in der Computerspielserie Assassin's Creed bescherte. Diese postérité-Geschichte zeichnet im Großen und Ganzen stimmig die Etappen der Legendenbildung nach, auch wenn sie in der Kritik von Guicciardinis angeblicher Faktenverzeichnung weit übers Ziel hinausschießt. Auf diese Weise zeichnet sich das Quellenmaterial ab, das es erlaubt, eine Geschichte der Lucrezia Borgia-Mythenbildung ins Auge zu fassen - ein Projekt, das es an Spannung und Aussagekraft mit jeder Biografie aufnehmen kann.
Volker Reinhardt