Sebastian Brändli: Chorherr Leonhard Brennwald (1750-1818). Ein Zürcher schreibt Tagebuch in unruhigen Zeiten, Zürich: Chronos Verlag 2018, 159 S., 8 Farb-, 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-0340-1492-2, EUR 32,00
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Die Stadt Zürich kennt eine besondere Tradition: Die Neujahrsblätter. Ihre Anfänge gehen auf das Jahr 1645 zurück. Die meisten dieser Blätter, meistens Abhandlungen über ein spezifisches Thema, entstanden jedoch erst im späteren 18. Jahrhundert, als das Sozietätswesen im Zuge der Aufklärung einen Höhepunkt erreichte. Die vorliegende Darstellung ist das 182. Neujahrsblatt der Gelehrten Gesellschaft in Zürich auf das Jahr 2019. Diese Gesellschaft geht auf die 1779 gegründete Gesellschaft der Gelehrten auf der Chorherrenstube zurück. Zu letzterer gehörte ab 1804 auch Leonhard Brennwald.
Die Zürcher Neujahrsblätter richten sich in der Regel an ein größeres, gebildetes, insbesondere lokales und regionales Publikum. Das ist auch im vorliegenden Fall so. Der Forschungsbezug wird in erster Linie im Bezug auf die lokale Geschichtsschreibung hergestellt, nur in zweiter Linie durch den Einbezug einzelner Arbeiten aus der schweizerischen Geschichtsschreibung zur Umbruchszeit des späteren 18. und früheren 19. Jahrhunderts. Weitere entsprechende Ansatzpunkte fehlen - wenn wir von der Orientierung an Kosellecks Konzept der "Sattelzeit" absehen -, was durchaus dem Genre des Neujahrsblatts entspricht. Wenn im Untertitel auf Brennwald den Tagebuchschreiber hingewiesen wird, so bedeutet dies also nicht, dass wir es mit einer Studie zur historischen Selbstzeugnisforschung zu tun hätten. Brändlis Darstellung ist eine im im lokal- und regionalgeschichtlichen Kontext verortete und verankerte Biografie, die in diesem Rahmen ein überzeugendes Bild des Chorherren Brennwald zu vermitteln vermag.
Das Besondere an dieser Biografie liegt darin, dass sich ihr Autor auf ein Tagebuch seines biografischen Subjekts von enormen Ausmassen stützen konnte. Dieses bezieht sich auf die Jahre 1795 bis 1812. Es dürfte "weit über 5000 Seiten" (12) im Folioformat umfassen. Brennwald begann seine autobiografischen Aufzeichnungen mit der Wahl durch die städtische Obrigkeit als Pfarrer von Maschwanden und beendete sie 6 Jahre vor seinem Tod (1818), ohne die Gründe für dieses einigermassen abrupte Ende der Nachrichten über seinen Alltag kundzutun. Brändlis Darstellung begleitet Brennwald als Pfarrer in der ländlichen Gemeinde Aschwanden am südlichen Rand des zürcherischen Stadtstaates, sie zeichnet dessen Rolle als Vertreter der städtischen Herrschaft auf dem Lande nach, gleichzeitig aber auch das Entstehen von Freundschaften mit Vertretern des ländlichen Honoratiorentums, namentlich mit dem Landarzt Heinrich Frick, der nach 1798 zu einem regionalen Exponenten der Helvetischen Republik werden sollte.
Die Darstellung wirft teilweise neues Licht auf die Umbruchzeit, die 1798 mit dem Zusammenbruch des eidgenössischen Ancien Régime begann, insbesondere auf die zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Zentralisten und Föderalisten in den Anfangsjahren des 19. Jahrhundert, die Napoleon Bonaparte 1803 durch den octroi einer neuen Verfassung unterbrach. Die sogenannte Regenerationsverfassung von 1803 beendete das zentralistische Experiment der unter französischer Ägide ins Leben gerufenen Helvetischen Republik (1798-1803). Gleichzeitig hielt sie jedoch an der 1798 verfügten politischen Gleichstellung von Stadt- und Landbevölkerung zumindest im Grundsatz fest. Aufgrund seiner Untersuchung des Tagebuchs Brennwalds zeigt Brändli, wie sich der eher konservative Pfarrer und Stadtbürger den neuen Verhältnissen allmählich anpasste, wobei ihm seine ländlichen Freundschaften das Verständnis für die politischen und rechtlichen Neuerungen erleichterten. 1804 wurde Brennwald für ihn selbst überraschend in das Zentrum der Leitung der zürcherischen Kirche kooptiert und verbrachte die letzten vierzehn Jahre seines Lebens als Mitglied des (seit der Reformation säkularisierten) städtischen Chorherrenstifts in Zürich. Nachdem er zunächst viele Jahre als seinem Vater, dem Pfarrer von Kloten, zugeordneter Vikar verbracht hatte, machte Brennwald nach 1795 Karriere. Dabei hielt ihm seine Ehefrau, die Pfarrerstochter Susanna Esslinger, den Rücken frei. Auf ihre wichtige Rolle in der Sicherung und Vermehrung des gesellschaftlichen Ansehens der Pfarrleute wird verschiedentlich, wenngleich nur kurz, hingewiesen.
Im Unterschied zu manch anderen Zürcher Neujahrsblättern der vergangenen Jahrzehnte erscheint Sebastian Brändlis Darstellung in auffallend gediegener Aufmachung als gebundenes Buch mit einer Reihe von Abbildungen auf Glanzpapier im Zentrum des Bandes. Die insgesamt flüssige und ansprechende Darstellung hätte allerdings an einzelnen Stellen ein der Qualität der Aufmachung entsprechendes Lektorat verdient. Der schlanke, elegante Band wird ergänzt durch eine kurze Zeittafel und ein dreiseitiges Glossar zu "Institutionen, Ämtern und Ereignissen".
Kaspar von Greyerz