Marc-Simon Lengowski: Herrenlos und heiß begehrt. Der Umgang mit dem Vermögen der NSDAP und des Deutschen Reiches in Hamburg nach 1945 (= Forum Zeitgeschichte; 27), München / Hamburg: Dölling und Galitz 2017, 426 S., ISBN 978-3-86218-104-9, EUR 30,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Andrea Bahr: Parteiherrschaft vor Ort. Die SED-Kreisleitung Brandenburg 1961-1989, Berlin: Ch. Links Verlag 2016
Joey Rauschenberger: Die NSDAP in Heidelberg. Organisation und Personal im "Dritten Reich", Heidelberg: Mattes Verlag 2021
Thorsten Holzhauser: Die "Nachfolgepartei". Die Integration der PDS in das politische System der Bundesrepublik Deutschland 1990-2005, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019
Frank Jacob / Cornelia Baddack / Sophia Ebert / Doreen Pöschl (Hgg.): Kurt Eisner Gefängnistagebuch, Berlin: Metropol 2016
Andreas Hoffmann: Parteigänger im Vormärz. Weltanschauungsparteien im sächsischen Landtag 1833-1848, Ostfildern: Thorbecke 2019
Erst in den 1990er Jahren setzte die zeithistorische Aufarbeitung der Nachgeschichte des Nationalsozialismus ein, die mittlerweile - zumindest für die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte - als gut erforscht gelten kann. Die Frage, was mit den Vermögen der 1945 aufgelösten NSDAP samt ihrer Gliederungen und des Deutschen Reichs geschehen ist, stellte jedoch bislang ein Desiderat dar. Marc-Simon Lengowski hat nun in seiner an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg entstandenen Dissertation, auf der das vorliegende Buch basiert, eine erste Fallanalyse vorgelegt, die sich erhellend und methodisch solide dieser Leerstelle widmet.
Die Vermögen von NSDAP und Deutschem Reich - es handelte sich dabei vor allem um Immobilien und Grundstücke, da die Bargeldbestände in der Währungsreform von 1948 entwertet wurden - seien, so arbeitet Lengowski heraus, in der britischen Besatzungszone zumeist "herrenlos" (14) gewesen. Denn für die NSDAP habe es nach ihrem Verbot keine Rechtsnachfolger gegeben. Und ein handlungsfähiger Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs sei erst mit der Gründung der Bundesrepublik entstanden. Da das Parteivermögen vor allem aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden sowie der "Usurpation staatlicher Mittel" (141) - und nur in wenigen Fällen aus geraubtem Eigentum - bestanden habe, seien nur kleine Teile davon durch Rückerstattungsberechtigte beansprucht worden.
Die britische Militärregierung, so der Autor, habe die Vermögen lediglich gesperrt, nicht aber deren konkrete Verteilung vorgegeben. Sie seien "heiß begehrt" (14) gewesen. Ganz unterschiedliche Akteure, allen voran die bereits 1946 neu entstandenen Länder, aber auch wieder- beziehungsweise neu gegründete Parteien, Gewerkschaften und Vereine, hätten sich dafür interessiert. Die Analyse dieser Auseinandersetzungen um den ehemaligen Partei- und Reichsbesitz bildet den Kern der in drei Kapitel gegliederten Studie. Sie beruht auf umfangreichen britischen und deutschen Quellenbeständen vornehmlicher staatlicher Herkunft, die mit der gebotenen quellenkritischen Skepsis ausgewertet wurden.
Das erste Kapitel behandelt die Zeit des Interregnums (1945-1949). Darin wird die Zielsetzung der Besatzungsmacht sowie die Auffindung und Kontrolle der Vermögen analysiert. Der britischen Militärregierung sei es anfangs primär darum gegangen, den Nationalsozialismus in ihrer Besatzungszone auszuschalten, wozu es auch notwendig gewesen sei, einer NS-Partisanenbewegung den Zugriff auf die Vermögen zu verwehren. Später sei es aber auch Ziel gewesen, eine Rückerstattung der von den Nationalsozialisten geraubten Vermögenswerte zu ermöglichen.
Für die Auffindung und die anschließende treuhänderische Verwaltung habe die Militärregierung wegen Personalmangels, aber auch wegen fehlender Sachkenntnisse auf die Expertise deutscher Fachbeamter zurückgegriffen, die in einigen Fällen vormals als "Stützen des Systems" (141) gedient hätten und etwa an der Ausplünderung der aus Deutschland fliehenden Juden beteiligt gewesen seien. Gleichwohl kommt Lengowski zu dem Schluss, dass diese Beamten sich nicht als "ehemalige Nationalsozialisten, sondern als städtische Angestellte begriffen, die zum Wohl des neuen Bundeslandes handeln wollten" (143). Dieser milden Bewertung des Autors widerspricht jedoch das von ihm selbst an mehreren Fällen akribisch herausgearbeitete Vorgehen der staatlichen Behörden. So hätten die Bediensteten des Stadtstaats Hamburg etwa mit mehr als fragwürdigen Mitteln und entgegen dem Willen der britischen Militärregierung die gerechtfertigten Ansprüche eines beraubten jüdischen Bürgers auf Rückerstattung abgewehrt: "Die NS-Organisation hatte den unangenehmen Teil der 'Arisierung' erledigt, die Stadt strich aber den Gewinn dafür ein." (233)
Die beiden weiteren Kapitel schließen sich trotz kleinerer Überschneidungen chronologisch an, beschäftigen sich jedoch mit unterschiedlichen inhaltlichen Aspekten: Das zweite Kapitel handelt von der Distribution des NSDAP- (1947-1978), das dritte von der des Reichsvermögens (1946-1976).
Die Verteilung des NSDAP-Vermögens sei im Wesentlichen von drei deutschen Ausschüssen selbst entschieden worden. Allerdings seien deren Mitglieder von der Militärverwaltung eingesetzt worden und hätten sich nach britischen Vorgaben richten müssen. Die Gewinner im Verteilungsprozess hätten sich auch wegen der damit einhergehenden Anschubfinanzierung als dauerhafte Akteure in der jungen Bundesrepublik durchsetzen können, allen voran die Bundesländer, für die das NS-Vermögen "als eine Art materieller Erstausstattung" (284, 386) gedient habe, aber auch die Gewerkschaften unter dem Dach des DGB sowie - jedenfalls für den Stadtstaat Hamburg - die Konsumgenossenschaften. Bei der Vermögensverteilung habe es sich nicht nur um eine Restauration der Verhältnisse von vor 1933 gehandelt, sondern auch um eine "politisch gewollte und gesteuerte Neuverteilung" (15). So hätten vor allem die DGB-Gewerkschaften Mittel aus dem geraubten Vermögen der verschiedenen Weimarer Gewerkschaften erhalten und nicht etwa nur von ihren direkten Vorläuferorganisationen. In diesem Umstand sieht Lengowski einen wichtigen Grund, "warum dem DGB fast keine ernst zu nehmenden Konkurrenzorganisationen erwuchsen" (387).
Das Reichsvermögen stand laut Grundgesetz prinzipiell dem Bund zu. Da die Verfassung jedoch Ausnahmen für Liegenschaften vorsah, die bis zur Staatsgründung von den Ländern genutzt worden waren, und Partei- und Reichsvermögen aufgrund der Struktur des NS-Staates bisweilen miteinander verwoben waren, sei es bei der Verteilung dieser Vermögenswerte zu langjährigen Konflikten zwischen Bund und Ländern gekommen. Ebenso wie beim NSDAP-Vermögen habe sich auch hier zumeist der Stadtstaat durchsetzen können, da er einen eingespielten Beamtenapparat zur Verfügung gehabt und sich genauestens mit den Vermögenswerten ausgekannt habe, während die noch wenig routinierten Bundesbeamten stets zehn Länder in den Blick hätten nehmen müssen.
Lengowski gelingt es in seiner gut lesbaren und klar strukturierten Studie, die Forschungslücke zum Umgang mit den Reichs- und NSDAP-Vermögen nach 1945 mit wichtigen Erkenntnissen zu füllen. Zudem bestätigen seine Ergebnisse bisherige Analysen zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Der Autor zeigt, dass das "herrenlose" NSDAP-Vermögen im Bewusstsein der damaligen Akteure "frei von jeder moralischen Aufladung" (389) gewesen sei und deshalb auch über dessen Herkunft und Verwendung weitgehend Stillschweigen geherrscht habe. Damit fügt sich sein Urteil in die durch lokale Fallstudien herausgearbeitete Erkenntnis, der zufolge für die Phase nach der Entnazifizierung das Schweigen über individuelle Schuld als Charakteristikum des "Sprechens" über die NS-Vergangenheit angesehen werden kann. [1] Des Weiteren bestätigt der Autor überzeugend den quellenkritischen Vorbehalt gegenüber Verwaltungsakten, den etwa Claudia Kaufmann und Walter Leimgruber anhand von Krankenakten aufgezeigt haben. [2] Zu kritisieren ist lediglich, dass teilweise unklar bleibt, ob die Erkenntnisse nur für Hamburg oder ganz Westdeutschland gelten, da keine systematischen Vergleiche mit anderen Bundesländern beziehungsweise anderen Besatzungszonen durchgeführt wurden, gleichzeitig aber etwa im Fazit sehr allgemeine Schlussfolgerungen gezogen werden. Dies ist jedoch aufgrund des Pioniercharakters und der im Hauptteil durchaus erfolgten Einbindung der lokalen Ergebnisse in die allgemeine Entwicklung zu verschmerzen. Das Buch ist deshalb nicht nur Hamburger Lokalhistorikern zu empfehlen, sondern allen, die sich mit der Nachgeschichte des Nationalsozialismus und dem Prozess der westdeutschen Staatsbildung beschäftigen.
Anmerkungen:
[1] Malte Thießen: Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005 (= Forum Zeitgeschichte; Bd. 19), München / Hamburg 2007; Neil Gregor: Haunted City. Nuremberg and the Nazi Past, New Haven / London 2008.
[2] Vgl. Claudia Kaufmann / Walter Leimgruber (Hgg.): Was Akten bewirken können. Integrations- und Ausschlussprozesse eines Verwaltungsvorgangs, Zürich 2008.
Philipp Kratz