Márta Fata / Anton Schindling (Hgg.): Luther und die Evangelisch-Lutherischen in Ungarn und Siebenbürgen. Augsburgisches Bekenntnis, Bildung, Sprache und Nation vom 16. Jahrhundert bis 1918. Unter Mitarbeit von Markus Gerstmeier (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte; Bd. 167), Münster: Aschendorff 2017, 820 S., 3 Kt., 64 s/w-Abb., 8 Tabl., ISBN 978-3-402-11599-2, EUR 78,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Márta Fata: Migration im kameralistischen Staat Josephs II. Theorie und Praxis der Ansiedlungspolitik in Ungarn, Siebenbürgen, Galizien und der Bukowina von 1768 bis 1790, Münster: Aschendorff 2014
István Keul: Early Modern Religious Communities in East-Central Europe. Ethnic Diversity, Denominational Plurality, and Corporative Politics in the Principality of Transylvania (1526-1691), Leiden / Boston: Brill 2009
Der vorliegende Band präsentiert wesentliche neue Forschungsergebnisse zum Verlauf und zu den Auswirkungen der Reformation im Donau-Karpaten-Raum, insbesondere in ihrer evangelisch-lutherischen Gestalt. Die Verfasser aus Deutschland, Ungarn, Slowenien, der Slowakei und Österreich behandeln in vielfältigen disziplinären Ansätzen die Entwicklung von Bekenntnissen, theologischen Konzepten und Kirchenorganisation, deren gesellschaftliche Kontexte und staatliches Umfeld. Einen wesentlichen Ausgangspunkt dafür bilden Resultate und Probleme der Konfessionalisierungsforschung, die als "innovatives mitlernendes Mittel" (15) verwendet wird. Prononciertes Interesse gilt dabei dem Modernisierungspotential der Konfessionen, ihrer Rolle in politischen wie sozialen Entwicklungen bis zum Ende des historischen Königreichs Ungarn. Der Vergleich mit dem Heiligen Römischen Reich, Kulturtransfer und Verflechtungsgeschichte werden daher praktisch überall mitgeführt, neue Forschungsresultate demonstrieren deren Multilateralität.
Die thematischen Blöcke des Bandes sind Reformation, Konfessionsbildung und Kirchenverfassung, Bildung und Gelehrsamkeit, Sprache, Konfession und Nationsbildung, Erscheinungsformen des kirchlichen Lebens, Luther-Jubiläen, Reformationsjubiläen und -darstellungen und schließlich Martin Luther und die Evangelisch-Lutherischen im Donau-Karpaten-Raum. Das Schwergewicht liegt dabei auf der frühen Neuzeit, Ausblicke bis ins 19. und frühe 20. Jahrhundert unternehmen nur wenige Beiträge. Dies ist jedoch zu verschmerzen angesichts der Komplexität der Zusammenhänge, die die Verfasser für das 15. bis späte 18. Jahrhundert rekonstruieren.
Alle Leistungen der insgesamt 27 Beiträger zu würdigen, ist hier nicht möglich. Gewichtige Aufsätze von Volker Leppin, Edit Szegedi und Ulrich A. Wien gehen auf die langwierige lutherische Konfessionsbildung in Siebenbürgen, die lange Phase des Eklektizismus und den Weg "von der reformatorischen Gemeinde zur Kirche" (Szegedi) in der dortigen spezifischen "kommunikativen Gemengelage" und politischen Konstellation zwischen Fürst und Ständen, Nationsuniversität und Geistlichkeit ein. Krista Zach (†) zeigt, wie unter den regionalen Voraussetzungen die "Volkskirche" bei den Siebenbürger Sachsen des 19. Jahrhunderts nicht als theologischer Terminus, sondern als Abbreviation für die "Symbiose von kirchlichen und politischen Agenden" (565) nach dem Verlust ihrer ständischen Institutionen fungierte.
Ein aus Sicht der Rezensentin besonders interessanter Zusammenhang, der in mehreren Beiträgen thematisiert wird und der für die "spezifischen regionalen Formen" der reformatorischen Strömungen in Ungarn wesentlich ist (13), ist das Verhältnis von Sprache(n) und Konfessionalität. Zoltán Csepregi erläutert explizit "ethnische versus konfessionelle Identitätsbildung [...] bis zum Ende des 18. Jahrhunderts". Er führt aus, dass angesichts vieler verschiedener ethnischer Bevölkerungsgruppen, deren Angehörige jedoch gewöhnlich einsprachig waren und zwischen denen das Lateinische als Vermittlungssprache diente, im 16. Jahrhundert "der Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft eine viel größere identitätsstiftende Kraft zukam als derjenigen zu den sich [...] erst ausdifferenzierenden Konfessionen" (379). Das Fehlen einer Übersetzungstradition in die Volkssprachen verstärkte diesen Effekt. Das 17. Jahrhundert bildete eine Übergangsperiode, in der sich konfessionelle Identitäten ausdifferenzierten und verstärkten. Im 18. Jahrhundert besaß dann die Konfessionszugehörigkeit stärkere Bindekraft, wofür die Übersetzungspraxis und eine breitere Mehrsprachigkeit, die nun erst entstand, die Voraussetzungen bildeten. Im 19. Jahrhundert trat diese vorrangige Bindekraft des Konfessionellen hinter die der konkurrierenden Nationalismen zurück, wie nicht zuletzt die Beiträge von Mátyás Kéthelyi, Péter Šoltes und Tibor Pichler belegen. Gabriella Hubert zeigt an einer Analyse lutherischer Gesangbücher bis ins 17. Jahrhundert, wie dies auch in einem liturgischen Nebeneinander resultierte: Die gerade beschriebene sprachliche Situation führte dazu, dass "ungarischsprachige Gemeindegesänge im 16. Jahrhundert deutsche Lieder weder in ihren Texten noch in ihren Melodien in nennenswerter Zahl rezipiert haben" (647). Ein weiterer Grund dafür war die bereits im ungarischsprachigen Kirchenlied aufgenommene Gregorianik, aber auch die metrische Tradition des ungarischen Gesangs. Ungarischsprachige Liedersammlungen waren oft gesamtprotestantisch konzipiert und wurden selektiv genutzt. In den in Ungarn erschienenen deutschsprachigen Gesangbüchern aus der Zips, Leutschau, Ödenburg oder Pressburg wiederum sind unterschiedliche Vorbilder aus Deutschland feststellbar, die lokalen Beziehungsgeschichten folgten. Ähnliche Entwicklungen, lange beeinflusst vom bibeltschechischen Kirchenlied, lassen sich bei den slowakischen Evangelischen beobachten.
Eva Kowalská und Markus Gerstmeier liefern nicht nur weitere Details zum Wirken der evangelischen Exulanten aus dem Königreich Ungarn. Sie zeigen auch, wie wichtig das Netzwerk familiärer, wirtschaftlicher und akademischer Beziehungen war, in das insbesondere der Norden Ungarns kontinuierlich eingebunden war. Auch deswegen gut informiert, wurden durchaus nicht alle von ihnen zu Vermittlern des Pietismus. Das Spektrum ihrer Haltungen diesem gegenüber war sehr breit und reichte bis hin zu wohlinformierter Ablehnung. Einige jedoch nahmen "nicht nur innerhalb Ungarns, sondern auch im Heiligen Römischen Reich [...] selbst einen entscheidenden Anteil" an der Herausbildung des frühen Pietismus (314). Am Wirken derer, die nach Ungarn zurückkehrten, demonstriert László Szelesztei Nagy, wie - neben ihrem theologischen Denken - auch ihre Arbeitsbedingungen und die Bedürfnisse auf- und auszubauender Gemeinden die Stellungnahmen zum Pietismus mitformten. Die Prägewirkung sprachlich definierter beziehungsweise tradierter personeller Netzwerke wird auch in den Beiträgen von Reinhard H. Seitz zu den Kontakten zwischen Lauingen und Pressburg bzw. von Péter Kónya zur Formierung des Eperieser Kollegiums deutlich.
Daneben leuchten fachlich gewichtige Beiträge der Herausgeber Márta Fata sowie von Timea Benkő, Judit Bogár, Miklós Czenthe, France M. Dolinar, Béla L. Harmati, Botond Kertész, Julia Krämer-Riedel, István Monok, Gyula Pápay und Karl Schwarz Aspekte evangelischer Kulturgeschichte im Karpatenbecken aus.
Insgesamt liegt ein voluminöser Band vor, der profunde neue Ergebnisse vieler gestandener Forscher zur Theologie-, Kirchen- und Geistesgeschichte präsentiert, darunter vieler, deren in ihren Landessprachen veröffentlichte Beiträge nicht in Übersetzung zugänglich sind. Sie alle nutzen die Chance, ihre Belege und Argumente eingehend vorzustellen, auch die Fußnoten sind eine Fundgrube zum aktuellen Forschungsstand zu der Region. Den Herausgebern ist ausdrücklich für die sorgfältige sprachliche Bearbeitung der Beiträge zu danken.
Juliane Brandt