Bernard Wiaderny: "Schule des politischen Denkens". Die Exilzeitschrift "Kultura" im Kampf um die Unabhängigkeit Polens 1947-1991, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 434 S., ISBN 978-3-506-78787-3, EUR 99,00
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Der Band von Bernard Wiaderny leistet mit der Analyse der Publizistik und der politischen Aktivität der polnischen Monatsschrift Kultura einen wichtigen Beitrag zur Exilforschung. Die Monografie ist in sieben thematische Kapitel gegliedert und enthält eine theoretische Einführung, ein Schlusswort, einen Anhang mit Angaben zur Verbreitung der Zeitschrift, Verzeichnisse von Abkürzungen und Literaturquellen sowie neben einem Personenregister auch ein Pseudonymen- und Kryptonymenregister - ein nicht zu unterschätzender Vorteil bei der Lektüre eines Buches über eine Exilzeitschrift.
Den chronologischen Rahmen des Bandes bilden die Gründung der Zeitschrift und der Zusammenbruch des Kommunismus und der Sowjetunion. Die theoretisch-methodische Kontextualisierung berücksichtigt Probleme der Exilforschung in zwei Themenblöcken: die Vorgeschichte der Exilanten und die Inhalte ihrer literarischen, wissenschaftlichen und publizistischen Produktion. Die Existenz eines über Europa verstreuten Autorenkreises erfordert die Einbeziehung von nichttextuellen Aspekten und die Fokussierung auf die Wirkung der Zeitschrift. Nicht zuletzt ist auch der netzwerkanalytische Ansatz (in Anlehnung an Paul F. Wheeler) zu erwähnen, auf den Wiaderny bei der Untersuchung des Kultura-Kreises zurückgreift.
Im Hinblick auf die Ostmitteleuropaforschung bietet der Band einen Einblick nicht nur in historisch relevante Fragen, die in der Zeitschrift behandelt wurden (wie die Neutralisierung dieser Region, der Kampf um die kulturelle Freiheit oder das Spannungsfeld "Macht versus Gesellschaft"). Die Lektüre des Buches verdeutlicht auch die aktuelle Dimension von solchen Themen wie der nationalistischen Stimmungsmache in den Medien (Jerzy Giedroyc sah 1977 im Beschwören einer "deutschen Gefahr" in der Propaganda des kommunistischen Regimes ein "verlogenes antideutsches Spiel", 339), der Reparationsdebatte in Polen, dem (wiederbelebten) antiukrainischen Feindbild, der sich ausbreitenden Xenophobie oder der halbdiktatorischen Herrschaft in Russland.
Der von Wiaderny dargestellte Forschungsansatz (20), der sich auf die Konzeption des inner, second und outermost circle stützt (der innere, erste Kreis waren demnach die Kultura-Gründer, der zweite Kreis die Korrespondenten und Mitarbeiter im Ausland und der dritte, äußere Kreis die über die ganze Welt verstreuten Leser der Zeitschrift), markiert gleichzeitig drei Generationen (beziehungsweise Erfahrungsgemeinschaften) von Kultura-Autoren (die Kriegsgeneration, die Opfer der antijüdischen Kampagne von 1968 und die Opposition nach 1976). In Bezug auf diesen Generationenwechsel beschreibt Wiaderny den Wandel der Kultura als einer Exilzeitschrift - ab Mitte der 1970er Jahre konnte sie ihre Kontakte zur Heimat intensiv ausbauen. Die Ideen, die von der dritten Generation (mit Wohnsitz in der VR Polen) in der Kultura ausgearbeitet wurden, setzten deren Vertreter in der Dritten Republik in die Praxis um (357). Die in der Typologie selbst aufscheinende Vielfalt lässt sich übrigens nicht nur auf die Chronologie und auf die Formen der Zusammenarbeit mit der Kultura übertragen. Sie gilt auch für das vom Verfasser detailliert dargestellte ethnische Antlitz dieses Kreises, der sich für eine multikulturelle Vision der Polonität aussprach und dem polnischen Messianismus der Großen Emigration im 19. Jahrhundert kritisch gegenüberstand. Für ein offenes, liberales Polen setzten sich Autoren mit unterschiedlichen nationalen Wurzeln ein. Neben Jerzy Giedroyc, der polnisch-litauischer Herkunft war, konnte man in den Biografien namhafter Mitarbeiter der Zeitschrift deutsche (Józef Czapski, Jerzy Stempowski, Juliusz Mieroszewski), ukrainische (Bohdan Osadczuk) und jüdische (Gustaw Herling-Grudziński, das Ehepaar Zofia und Zygmunt Hertz, Leszek Kołakowski, Adam Michnik) Spuren finden.
Wiaderny präsentiert ein sorgfältig recherchiertes Bild der Kultura, bleibt aber souverän in seinem Urteil und setzt der Pariser Zeitschrift kein Denkmal. So verweist er auf kontroverse Ideen von Giedroyc, wie zum Beispiel auf dessen Vorschlag zur Gründung bewaffneter Partisanengruppen als Antwort auf die Verhängung des Kriegsrechts oder dessen Gedankenspiele über die Freilassung des hochbetagten Rudolf Heß. Für die Analyse der Kultura ist es sicher von Vorteil, dass es dem Verfasser gelingt, ihre Publizistik vor dem Hintergrund der ostmitteleuropäischen Erfahrung der NS-Besatzung und des Kommunismus zu präsentieren, statt Westeuropa und Deutschland wegen deren Appeasement-Politik zu kritisieren. Wiaderny präsentiert allerdings Beispiele für Statements Pariser Emigranten, die eindeutig gegen den damaligen politischen Mainstream in Westeuropa gerichtet waren. Dazu zählt unter anderem die Kritik an der "Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Millionen Ostmitteleuropäern", wie es in einem Artikel zum Bau der Berliner Mauer hieß (304), und an der Ostpolitik Willy Brandts, aber auch am Festhalten der bundesrepublikanischen Politik an der These vom vorläufigen Charakter der polnischen Westgrenze.
Der Verfasser präsentiert politische Stimmen Osteuropas aus einer Zeit, als diesem Teil des Kontinents das Mitspracherecht fast gänzlich entzogen wurde. Der bittere Ton vieler Aufsätze und Kommentare hat jedoch mit den sich heutzutage ausbreitenden antieuropäischen Narrativen nichts zu tun. Die von Wiaderny erforschte publizistische und verlegerische Arbeit des Instituts in Maisons-Laffitte beweist stattdessen, dass die Zeitschrift ihre Mission weniger als ein Bollwerk gegen den Kommunismus, sondern vielmehr als eine Brücke zwischen Ost und West verstand.
Wiaderny analysiert in seinem Buch politische Debatten, die in der Pariser Exilzeitschrift geführt wurden - insofern knüpft er an Aussagen von Giedroyc an, dass nicht die Kultur, die der Zeitschrift ihren Titel gab, sondern die Politik im Zentrum seines Interesses gestanden habe. In seiner akribisch durchgeführten Forschungsarbeit fehlt jedoch ein wenigstens symbolischer Hinweis auf die Leistungen der Polonistik, Slawistik oder Germanistik, insbesondere der Literatur- und Kulturwissenschaft, im Bereich der Kultura-Forschung. Die "Schule des politischen Denkens" (um an den Buchtitel anzuknüpfen) hinterließ ihre Spuren auch in zahlreichen Buchrezensionen, Berichten oder Analysen, die zum Beispiel die subversive (aber auch die kulturstiftende) Rolle der Literatur(kritik) im Exil betrafen. Durch das Prisma der in der Kultura rezipierten Belletristik ließe sich zum Beispiel der Blick polnischer Emigranten auf die DDR-Diktatur oder auf die junge Bundesrepublik rekonstruieren.
Im Zusammenhang mit Wiadernys Bemerkung zur sinkenden Anzahl von Artikeln über Deutschland in den 1970er Jahren (Giedroyc definierte sich selbst als einen "Menschen des Ostens", 37), wäre außerdem zu überlegen, ob es Sinn machen würde, einen Katalog von abwesenden Themen zu erstellen - schließlich zählten die Eskalation des RAF-Terrorismus, der Wandel der BRD zu einem Einwanderungsland oder die Ausbürgerung von Wolf Biermann zu den gravierenden Fragen jener Zeit, die in der Kultura bestenfalls nur angedeutet wurden.
Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die von Wiaderny mit wohltuender Sachkenntnis beschriebene "Schule des politischen Denkens" eher am Rande der aktuellen (beziehungsweise offiziell geförderten) Erinnerungskultur dahin vegetiert. Dieses wenig erfreuliche Fazit ist aber gewiss nicht der einzige Grund, das Buch von Wiaderny, das ein beachtenswertes Thema aufgreift, zu lesen und seinen Wert als Nachschlagewerk dementsprechend zu schätzen.
Krzysztof Okoński