Rezension über:

Katja Lißmann: Schreiben im Netzwerk. Briefe von Frauen als Praktiken frommer Selbstbildung im frühen Quedlinburger Pietismus (= Hallesche Forschungen; Bd. 50), Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2019, X + 443 S., ISBN 978-3-447-11079-2, EUR 64,00
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Rezension von:
Ulrike Gleixner
Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Ulrike Gleixner: Rezension von: Katja Lißmann: Schreiben im Netzwerk. Briefe von Frauen als Praktiken frommer Selbstbildung im frühen Quedlinburger Pietismus, Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 12 [15.12.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/12/32946.html


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Katja Lißmann: Schreiben im Netzwerk

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Dieses Buch ist im Kontext der anwachsenden Forschung zum Beitrag von Frauen zur pietistischen Bewegung entstanden; Grundlage ist die Dissertation der Verfasserin an der Philosophischen Fakultät III Erziehungswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Studie bewegt sich im Schnittfeld von historischer Bildungs-, Pietismus- und Genderforschung. Damit liegt ein sehr interessanter und höchst innovativer Beitrag sowohl für die Briefforschung, die historische Praxeologie als auch für die Pietismusforschung vor. Sehr gut strukturiert und theoretisch anspruchsvoll lässt die Autorin mit großer sprachlicher Gewandtheit die Leserschaft an ihrem Erkenntnisprozess in fünf Kapiteln teilhaben, denen eine Zusammenfassung im sechsten Kapitel folgt.

Gefragt wird nach den Funktionen des ausgeprägten Schreibbedürfnisses von Frauen im Quedlinburger pietistischen Netzwerk anhand von Briefen zweier pietistischer Protagonistinnen an der Wende zum 18. Jahrhundert. Sophia Maria von Stammer und Anna Magdalena von Wurm unterhielten aus unterschiedlichen Lebenssituationen heraus, zeitweise im gleichen Quedlinburger Haus schreibend, Korrespondenzen mit August Hermann Francke in Halle. Lißmann unternimmt eine praxeologische Rekonstruktion der Handlungs- und Deutungsvollzüge, die den Briefpraktiken beider Akteurinnen zugrunde liegen. Im ersten Kapitel werden die Ausgangspunkte des Analyseweges vorgestellt. Dazu gehört, den Pietismus als Netzwerk zu begreifen und die wechselseitige Durchdringung von Theologie und Frömmigkeitspraxis im Schreiben von Laien als Transfer und Transformierung religiösen Wissens zu verorten. Briefe werden als performative schriftliche Handlungsvollzüge verstanden, die am pietistischen Programm mitschrieben.

In den Kapiteln zwei und drei schreibt sich die Autorin in die genderorientierte und kulturwissenschaftliche Forschung ein. Aufbauend auf die bisherige Forschung und diese zugleich weiterentwickelnd werden Frömmigkeitspraktiken von Frauen als (Aus-)Handlungsräume für alternative Geschlechterpraktiken verstanden. Mit einem praxeologischen Ansatz kann die performative Dimension von Handeln als Produktion von Sinn und sozialer Wirklichkeit verstanden werden. Darauf aufbauend macht die Autorin das von Alkemeyer/Budde/Freist (2013) entwickelte Konzept der "Selbst-Bildungen", das Subjektivierungsprozesse unter Einbeziehung des Eigensinns historischer Subjekte betrachtet, zur Basis ihrer Analyse. Subjektivierung vollzieht sich aneignend in Praktiken. Foucaults "Technologien des Selbst"(1993) stellen schließlich die Verbindung zu religiösen Handlungsvollzügen her. Die Sorge um sich resultierte in einer methodischen Selbstmodellierung und fand in den praktischen Vollzügen von Meditation sowie Lektüre- und Schreibpraktiken statt. Diese Ansätze verfolgend kann Lißmann pietistische Briefe als fromme Praktiken der Selbst-Bildung interpretieren.

Das vierte Kapitel führt ausführlich in die lokalpolitischen Konflikte Quedlinburgs und in das ab 1690 entstehende pietistische Netzwerk ein. Anhand von landeskundlicher Literatur und Archivalien zeigt Lißmann, wie die politische Frontstellung zwischen der Äbtissin Anna Dorothea, Herzogin von Sachsen-Weimar (1657-1704), und dem obersten kurfürstlichen Beamten, dem Stiftshauptmann Adrian Adam von Stammer (gestorben 1703), der die landesherrlichen Herrschaftsansprüche vertrat, sich auf die Pietismusfrage übertrug. Die habitualisierten Kompetenzstreitigkeiten fanden im Pietismus ein neues Streitfeld, in dem die Äbtissin auf der ablehnenden und Stammer auf der fördernden Seite Position bezog. Die Äbtissin und der Stiftshauptmann, zugleich Ehemann der Briefschreiberin Sophia Maria von Stammer, machten sich gegenseitig das Leben schwer, wobei der Stadtrat wechselweise mit beiden Seiten in Konflikt geriet. Das Quedlinburger pietistische Netzwerk kennzeichnete eine Durchdringung von religiösen, ständischen, verwandtschaftlichen, wirtschaftlichen und lokalpolitischen Querverbindungen der Personen.

Im fünften Kapitel steht nun die Analyse der Briefe der beiden Frauen an August Hermann Francke mit den Vollzügen ihrer Selbst-Bildungsprozesse im Zentrum. Die Gattin des Stiftshauptmanns Sophia Maria von Stammer, geboren von Selmnitz (1657-1705), war eine der Hauptpersonen im lokalen und zugleich überregionalen pietistischen Netzwerk. Die Quedlinburger Hausherrin und Schlossherrin auf der Rammelburg verfasste 45 Schreiben an Francke in den Jahren 1691 bis 1704, die Antworten sind nicht erhalten. Katja Lißmann liest die Briefe vor dem Hintergrund der Konzeptionen eines kontinuierlichen individuellen Wachstums im Glauben bei Philipp Jakob Spener, Gottfried Arnold und August Hermann Francke und entschlüsselt das Schreiben der Frau von Stammer als aktiven Prozess im Voranschreiten auf dem Weg zu einer christlichen Vervollkommnung. Die Briefe wurden zu einem Raum schriftlicher Meditation und waren über lange Passagen monologisch gehalten. Die einzige Dynamik im stark repetitiven Schreiben war die allgegenwärtige Antithese von Gott und Welt. Religiöse Lektüren, Gebetspassagen und biblische Bilder wurden zur Selbstaffektion aufgerufen. Francke war zweifellos der religiöse Mentor, zugleich entwickelte die Verfasserin ihm gegenüber einen seelsorgerischen Ton, der ihre Eigenpositionierung im Sinne des "allgemeinen Priestertums" zeigte.

Anna Magdalena von Wurm, später verheiratete Francke (1670-1734), fand nach dem Tod ihrer Eltern gegen den Wunsch der Verwandten Anfang 1694 im Hause von Stammer Aufnahme. Die 26 überlieferten Briefe aus dem Zeitraum 1692 bis 1694 der jungen pietistischen Adeligen unterscheiden sich hinsichtlich der Selbst-Bildung von den Briefen ihrer älteren Fördererin. Francke begann den Briefwechsel, als Anna Magdalena noch mit ihrer Mutter auf dem thüringischen Rittergut in Kleinfurra lebte, was ihr die Gelegenheit gab, sich in der ländlichen Abgeschiedenheit in das überregionale pietistische Netzwerk einzuschreiben. Die schriftliche Kommunikation zwischen Gleichgesinnten mit gegenseitiger Erbauung wurde schließlich zur Brautkorrespondenz und kulminierte in der Heirat mit dem pietistischen Großmeister im Juni 1694. Der Versuch der Brüder, die Heirat zu verhindern, misslang aufgrund der Gegenwehr des lokalen pietistischen Netzwerkes. Ein Exkurs geht auf die spiritualistische Frömmigkeit von Anna Magdalena von Wurm ein, die für das Ehepaar eine Herausforderung blieb, da Francke sich in Halle mit seinem staatstragenden Reformprogramm vollständig von mystisch-spirituellen Frömmigkeitsformen abwandte.

Im sechsten Kapitel werden die Analysen zusammengeführt. Praktisch handelnd nahmen beide Briefautorinnen durch ihre Sprech- und Argumentationsposition eine alternative, eigenständige Subjektposition ein. Sie forderten die gleichberechtigte Position nicht als Postulat, stattdessen bezogen sie diese praktisch in ihrem Schreiben. Auch durch die von Stammer häufig benutzte Formel der "Gotteskindschaft" wurden die Geschlechterrollen der Gläubigen neutralisiert. Sophia Maria von Stammer und Anna Magdalena von Wurm positionierten sich als Kinder Gottes und Miterbinnen der Gnade und nahmen performativ die damit verbundenen geschlechterneutralen Sprech- und Handlungspositionen ein. Methodisch reflektiert ist es Katja Lißmann sehr überzeugend gelungen, die Briefe der beiden Protagonistinnen in zweifacher Weise aufzuschlüsseln: als Praktiken frommer Selbst-Bildung und als neuen Handlungsspielraum im Mitschreiben am pietistischen Programm. Dem Plädoyer der Autorin für eine verstärkte mikrohistorische Forschung zum pietistischen Netz unter Einbeziehung der Korrespondenzen von Frauen muss unbedingt zugestimmt werden.

Ulrike Gleixner