Nicolai Hannig: Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800, Göttingen: Wallstein 2019, 654 S., 87 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3406-9, EUR 39,90
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Das Buch von Nicolai Hannig über "Kalkulierte Gefahren" ist ein charakteristisches und zugleich bemerkenswertes Dokument jüngerer Habilitationsschriften im Bereich der Neueren und Neuesten Geschichte. Deren Themen befassen sich kaum noch mit konkreten Ereignissen des 19. bis 21. Jahrhunderts. Vielmehr herrschen heute originelle Querschnittsthemen vor, wie vor allem der cultural turn der 1990er-Jahre sie ermöglicht hat.
Dabei geht es häufig um Phänomene, die irgendwann im ausgehenden 18. Jahrhundert ihr Profil erhielten. Spätestens um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert wurden sie dann mit wissenschaftlichen Methoden bearbeitet, seit den 1970er-Jahren zunehmend hinterfragt. Dem Schema folgt letztlich auch die Arbeit von Hannig, die einen wichtigen Beitrag zur Struktur- und Verlaufsgeschichte der Moderne leistet. Die hat sich inzwischen auch von den gängigen Zäsuren und Epocheneinteilungen der Politikgeschichte emanzipiert.
Das Thema Sicherheit erscheint heute als ein auch tagespolitisch weitaus dominanteres Thema als etwa Freiheit oder Gerechtigkeit. Zu seinem historischen Verständnis trägt das Buch von Hannig maßgeblich bei, indem es säkulare, parallel verlaufende Tendenzen adressiert: Einerseits die immer eigenverantwortlicher verlaufende Prävention der Individuen vor Schäden aller denkbaren Art. Andererseits die Vorsorge vor Katastrophen und Naturgefahren, die eher staatliche, wissenschaftliche und wirtschaftliche Aktivitäten beförderten. Als Quellenbasis rekurriert die Untersuchung auf ein heterogenes Set an Dokumenten und Bildquellen aus verschiedenen Archiven, auf wissenschaftliche Arbeiten und ethnologische Studien.
Die Kapitel sind in einem chronologischen wie prozessualen Dreischritt angeordnet. Sie adressieren zunächst solche Gefahren, die im 19. Jahrhundert immer systematischer zu verhindern versucht wurden. Um die Jahrhundertwende versuchte man deren Eintreten dann zunehmend zu berechnen, um sie namentlich für Versicherungen kalkulierbar zu machen. Darauf aufbauend stand dann im 20. Jahrhundert die präventive Vermeidung von Gefahren im Mittelpunkt. Die im Buch detaillierten Schneisen sind überwiegend in Deutschland und der Schweiz lokalisiert. Sie nehmen aber auch russische, amerikanische oder pazifische Beispiele mit auf, wo diese für den westlichen Diskurs der Prävention wichtig wurden.
Den Anfang markiert für Hannig das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755. Dessen Wirkung für das Bewusstsein des 18. Jahrhunderts wird inzwischen sogar dem von "Auschwitz" im 20. Jahrhundert gleichgestellt. Die Vorstellung einer "Naturkatastrophe", die eher eine solche der menschlich gebauten Umwelt ist, etablierte sich um die Wende ins 19. Jahrhundert. Besonders im Wasserbau lässt sich die Verbreitung des Präventionsparadigmas gut nachverfolgen. In den entstehenden Nationalstaaten, die für die Sicherheit ihrer Bürger einstehen, wurden in der Geologie, der Astronomie oder der Hydrotechnologie zunehmend über eine koordinierte Abwehr solcher Gefahren diskutiert. Dabei entstand ein spezifischer, nicht zuletzt militärisch inspirierter "Naturgefahrensinn". Er leitete sich vornehmlich aus der Beobachtung des Wetters, von Überschwemmungen und seismischen Aktivitäten ab.
Waren Naturkatastrophen bis dahin überwiegend als heilsgeschichtliche Ereignisse interpretiert worden, wollte man nun deutlich aktiver darauf reagieren. Die Natur sollte nicht nur beherrscht, sondern auch gezähmt werden. Kunst, Musik und Literatur waren von Katastrophen fasziniert. Die Malerei etwa reagierte auf Farbspiele, die durch vulkanische Aktivitäten erzeugt wurden. Das Buch ist attraktiverweise reich und aussagekräftig bebildert. Von Katastrophenpostkarten bis zu entsprechenden Filmen und vom "Schimmelreiter" bis zu Franz Kafka bezieht es zahlreiche kulturelle Begleitphänomene mit ein.
Spätestens in Reaktion auf das Erdbeben in San Francisco im Jahr 1906 wurde der Umgang mit Naturgefahren zunehmend kommerzialisiert. Versicherungsgesellschaften perfektionieren ihr Risikomanagement mit Hilfe der Statistik oder fotografischer Aufnahmen. So trugen sie zu einer Verwissenschaftlichung sowie einem präventiven Management von Ängsten bei. Erste Ansätze zu einer Soziologie des Risikos dachten über eine Steigerung der Resilienz von Menschen und Systemen nach. Damit stellten sie auch staatlich nutzbares Regulierungswissen bereit. Vor allem Rückversicherungskonzerne bildeten ebenso exaktes wie umfassendes Wissen über weltweite "Elementargefahren" aus, um unternehmerische Risiken kalkulierbar zu halten. Denn auf dem Markt der denkbaren Gefahren ließ sich viel Geld verdienen.
Bei den sich formierenden Sinnen für Naturgefahren und Prävention handelt es sich um Phänomene, die neben Politik und Technik auch die Kriegsführung, Populärkultur, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft umfassten. Natur wurde zu einer "bearbeitbaren" Bedrohung, die entsprechenden Interventionen brachten nicht allein weltweit agierende Versicherungen und den Vorsorgestaat hervor, sondern auch eine umweltbewusste Haltung. Der Epilog verweist darauf, wie aktuell das Thema ist. Er relativiert aber auch den Eindruck, dass eine bisweilen wahnhaft erscheinende Präventionslogik heute überhandnehme.
Das Buch spannt ein breites Panorama an historischen Prozessen auf. Dabei halten sich Vergleiche und Verflechtungen ebenso eine Waage wie sprechende Beispiele und übergreifende Trendaussagen. Das ist nicht nur inhaltlich überzeugend. Es ist auch flüssig geschrieben und eignet sich insofern für ein breiteres Publikum. Eine Rückbindung der Befunde an die jüngere Sicherheitsforschung, die Hannig eingangs immerhin andeutet, wird wohl nur der Spezialist vermissen. Insgesamt stellt das Buch einen beeindruckenden Beitrag zur Selbstaufklärung der Ambivalenzen dar, die der veräußerlichte Wunsch nach Sicherheit in komplex organisierten Gesellschaften erzeugt.
Dirk van Laak