Meik Woyke: Helmut Schmidt (= Reclam 100 Seiten; Bd. 20522), Stuttgart: Reclam 2018, 100 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-15-020522-8, EUR 10,00
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Ursula Bitzegeio / Anja Kruke / Meik Woyke (Hgg.): Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Beiträge zu Gewerkschaften, Nationalsozialismus und Geschichtspolitik, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2009
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Meik Woyke (Hg.): Wandel des Politischen. Die Bundesrepublik Deutschland während der 1980er Jahre, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2013
Das Cover des vorzustellenden Büchleins zieren Schlagworte, mit den man den Hamburger Alt-Kanzler gerne umschreibt: elder statesman, Wehrmachtoffizier, Bundeskanzler, Sturmflut, Menthol-Zigaretten, ZEIT-Herausgeber, Loki, Brahmsee und andere. Damit gibt schon der Umschlag vor, dass man es nicht mit einer umfassenden und tiefschürfenden Biographie zu tun hat, sondern eher der schnelle Leser angesprochen werden soll. Wie bei den übrigen Bänden dieser Reihe versucht Meik Woyke, Helmut Schmidt anhand seiner Vita und der sie prägenden Ereignisse zu porträtieren. In knappen, gut lesbaren Kapiteln durchschreitet das Buch so das Leben des SPD-Politikers; chronologisch, nicht langatmig. Dabei widmet sich der Autor selbst eher unbekannten Aspekten: Ja, Helmut Schmidt war Kettenraucher, aber dass er schon mit 15 Jahren damit anfing, weiß vielleicht noch nicht jeder. Dieses "Hobby" machte ihn zudem zum Gegenstand einer preisgekrönten Comedy: Wilfried Schmickler und Uwe Lyko als "Loki und Smoky".
Das erste Kapitel skizziert die Jugend Schmidts, der aus einfachen Verhältnissen stammte und durch seinen strengen Vater, einen Lehrer, so etwas wie Gehorsam und Unterordnung lernte: Wenn die Großen redeten, hatten die Kleinen den Mund zu halten; Politik war nichts für Frauen, und geheult wurde selbst bei unerträglichen Schmerzen nicht. Der väterliche Bücherschrank blieb für die Kinder zu, und die Zeitung gab es für den kommenden Bundeskanzler auch nicht zum Lesen. Hier kann man erahnen, wieso Schmidt als Politiker der jungen Bundesrepublik und später als Kanzler durchaus herrisch und rechthaberisch seinen Weg ging. Das hatte er so gelernt.
Wie der Verfasser am Beginn des zweiten Kapitels herausstellt, empfand Schmidt die Wehrmacht bei aller Ablehnung des Nationalsozialismus als anständigen Verein ohne Nazis (19). Sein Wehrdienst, 1938 bei der Flugabwehr in Bremen begonnen, endete erst 1945 als Oberleutnant mit der Kapitulation und anschließender Kriegsgefangenschaft. Dass er den "Scheißkrieg" von "Adolf Nazi" verdammte, wissen wir aus einer jüngeren Veröffentlichung von Sabine Pamperrien (http://www.sehepunkte.de/2016/04/26513.html). Woyke stellt noch heraus, was Pamperrien untermauert hatte: Helmut Schmidt wurde durch den Krieg - und alles, was er danach darüber erfuhr - nachhaltig geprägt. Selbst auf seinen Charakter und seinen Umgang mit Menschen färbte die Zeit bei der Wehrmacht tief ab.
Schmidts wesentliche Erkenntnis aus dieser Zeit war, dass Demokratie nur durch Partizipation funktioniert und ohne sie scheitern muss. Der Weg zur SPD - vor 1933 die einzige ernsthafte demokratische Anti-Hitler-Partei in Deutschland - war durch seine kleinbürgerliche Herkunft nicht unbedingt vorgezeichnet, sondern erschloss sich ihm eher dadurch, dass andere ehemalige Soldaten ihm diesen Weg wiesen. Auch hatten die Debatten in der Kriegsgefangenschaft Schmidt für die Politik gewonnen. Er wollte mitgestalten, schloss sich 1946 der SPD an und gründete in Hamburg an der Universität die Ortsgruppe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS).
Als Krisenmanager in Hamburg während der Sturmflut 1962 gewann Schmidt die notwendige Popularität, um später auch in Spitzenfunktionen der SPD aufrücken zu können. Er hatte sich als Macher bewährt, wollte aber nicht solcher verstanden werden. Woyke schafft es im fünften Kapitel, Schmidts geistige Prägungen einfach darzustellen: Max Weber und Immanuel Kant waren die Ordnungsgrößen im Denken des Hamburgers. Insbesondere Weber beeinflusste Schmidts Denken über das richtige Verhältnis von Augenmaß, Leidenschaft und Verantwortung in der Politik. Danach verstand sich Schmidt als "Verantwortungsethiker", der die Folgen seines Handelns stets abschätzte und bereit war, dafür einzustehen. Im Falle eines Scheiterns der Geiselbefreiung aus der entführten Lufthansa-Maschine Landshut wäre er im Oktober 1977 wohl zurückgetreten. Natürlich muss Woyke in diesem Kapitel auch Schmidts Verständnis von Realismus erwähnen: "Wer eine Vision hat, sollte zum Arzt gehen!" Schmidts Sprache war bei aller Vernunft nicht selten ätzend und verletzend. Egal, wen er damit traf, ob Helmut Kohl oder Willy Brandt - zuweilen kannte er keine Rücksichten oder Vernunft (47).
Dass Politik dann für Schmidt mitunter "ein Kampfsport" war (sechstes Kapitel), ist nicht verwunderlich. Mit seiner Art, seine Sicht selbst gegen Widerstände in der eigenen Partei durchsetzen zu wollen, gegen politische Gegner zu polemisieren, die er als nicht satisfaktionsfähig ansah (wie Helmut Kohl, teils auch Franz Josef Strauß), machte er sich viele Feinde. Doch selbst die von ihm als "Wegelagerer" verunglimpften Journalisten mehrten seine politische Relevanz in den 1970er/80er Jahren und berichteten viel und gerne über ihn, auch wenn es inszenierte Familienbilder am Klavier oder auf dem Brahmsee waren.
Die in Schmidts Eigenwahrnehmung bei den Regierungsbildungen durch Willy Brandt nicht immer adäquate Berücksichtigung schmerzte Schmidt fraglos, führte aber kurioserweise gleichwohl zu einem stetig wachsenden Bedeutungszugewinn: 1966, in der Großen Koalition, wurde Schmidt SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag. Im ersten Kabinett Brandt 1969 wurde er Verteidigungs-, im zweiten 1972 sogar "Superminister" für Wirtschaft und Finanzen. Die Übernahme des Kanzleramts 1974 war insofern durchaus folgerichtig. Mit seinem Verständnis von Arbeitsabläufen und Entscheidungsprozessen musste er früher oder später anecken, scheitern oder gewinnen. Schmidt hat gewonnen, wie die Beispiele Horst Ehmke, Karl Schiller und Alex Möller - sowie im Buch kaum erwähnt: Erhard Eppler - verdeutlichen.
Die beinahe beiläufig eingefügten Zitate (65) untermauern die Persönlichkeit Schmidts ebenso wie die Darstellung Woykes. Die Grafik (71-72) bringt den Überkanzler nochmal auf den Punkt; inklusive der Zeitungsente zu gebunkerten Mentholzigaretten.
Seine Kanzlerschaft wird allerdings bis heute verklärt. Ihr Ende durch den Streit über die NATO-Nachrüstung - die auch ein zyklischer Modernisierungsprozess westlicher Systeme war! - belastet. Einen Popularitätshöhepunkt hatte er im Zuge des "deutschen Herbst" 1977 erreicht (80-84 sehr informativ beschrieben). Aber in der Darstellung verschwindet Schmidts Wirtschaftspolitik: Teils zweistellige Lohnzuwächse nach Tarifkonflikten, hohe Inflationsraten und eine unglaublich steigende Arbeitslosigkeit wollte der kleinere Koalitionspartner FDP nicht mehr mittragen, das sogenannte Lambsdorff-Papier, das entsprechend einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel einforderte, wurde zum Scheidungspapier.
Bemerkenswert knapp stellt Woyke Schmidts Jahre nach der Kanzlerschaft dar. Es sollten noch mehr als 30 Jahre sein, also mehr, als er in der Politik verbracht hatte. Als Herausgeber der ZEIT, als moralische Instanz, als vielfach interviewter und geehrter Elder Statesman wirkte der Altkanzler weiterhin. Seine internationale Reputation und seine Art, in einfacher Sprache Klarheiten einzufordern, mehrten seine Popularität. Er erfuhr eine Verehrung auch von seiner SPD, die er vorher nie besessen hatte.
Woyke liefert ein gewinnbringendes Buch ab, das Helmut Schmidt ohne großen Anlauf vorstellt, so wie er war oder vielleicht auch nur gewesen sein muss: eckig und kantig, intellektuell viele überfordernd, militärisch sozialisiert und ebenso seine Regierung(s-Kompanie) führend. Dass er nicht immer Recht hatte - eher seltener -, verblasst hinter dem stets polierten Glanz des Denkmals.
Eine Liste der einschlägigen und maßgeblichen Werke zu und von Helmut Schmidt schließt das Westentaschenbüchlein ab, wobei durchaus wichtige Werke fehlen, so Detlef Bald, Politik der Verantwortung. Das Beispiel Helmut Schmidt. Der Primat des Politischen über das Militärische 1965-1975 (Berlin 2008).
Eine persönliche Beobachtung zum Schluss: Bei einem Gespräch des Rezensenten mit dem Altkanzler 2010 rauchte dieser in 1:20 Stunde sieben Mentholzigaretten, schnupfte dreimal seinen ebenfalls mentholhaltigen Schnupftabak und nippte aus einer billigen Ikea-Tasse seinen kalt gewordenen Kaffee. Allüren hatte er schon, aber er verzichtete auf Statussymbole in jeder Hinsicht. Woykes Buch kann man auch ohne Zigaretten genießen.
Heiner Möllers