Kai Kappel / Erik Wegerhoff (Hgg.): Blickwendungen: Architektenreisen nach Italien in Moderne und Gegenwart, München: Hirmer 2019, 392 S., ISBN 978-3-7774-3374-5, EUR 49,90
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Die vielleicht wichtigste Erkenntnis des auf ein Kolloquium an der Bibliotheca Hertziana zurückgehenden, sehr ansprechend gestalteten Sammelbandes findet sich auf Seite 10 des Vorworts. Dort verweisen die Herausgeber auf die Institution, der sie Kolloquium und Publikation verdanken und deren "Existenz von einem fortdauernden Italieninteresse abhängt und die gleichsam Seismograf der innerlich vollzogenen wie realen Hinwendungen nach Italien ist." Dieser Umstand habe zwar die "Argumentation nicht konditioniert" - "Wohl aber stark befördert."
Tatsächlich hält die Bibliotheca Hertziana und auch die vielen anderen europäischen und amerikanischen Institutionen, an denen in Rom über Rom und Italien geforscht wird und an denen Künstler und Architekten wohldotierte Stipendien erhalten, ein Interesse an der "ewigen Stadt" und der italienischen Kunstlandschaft nahezu unhinterfragt am Leben. Die Gleichung, dass Rom so wichtig sei, weil es diese Institutionen gebe und die Institutionen so wichtig sind, weil Rom und Italien so viel zu beforschen böten, geht noch immer auf und perpetuiert sich immer wieder aufs Neue, wofür der vorliegende Band ein sprechendes Zeugnis ist.
Die Gründe nach Italien zu reisen hatten sich seit der Grand Tour im 18. Jahrhundert bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts verschoben, die "klassische" Bildungsreise war durch neue Ziele jenseits von Venedig, Florenz und Rom ergänzt und die Fixierung auf Antike und Renaissance war auf die ganze Architekturgeschichte erweitert worden. Im frühen 20. Jahrhundert gewannen Architekten neue Ideen, allerdings nicht mehr in Europa, sondern die präkolumbianische Architektur Mittel- und Südamerikas rückte wie die Hochhausmoderne Nordamerikas in den Fokus. Dennoch blieb Italien ein Sehnsuchtsort, allein schon deshalb, weil eine am traditionellen Kanon orientierte Architektenausbildung bis zur Gründung neuer Schulen nach dem Ersten Weltkrieg (Bauhaus, Stuttgarter Schule) weiterhin wirkmächtig blieb und letztlich auch die "künstlerische" Infrastruktur Italiens sehr gut ausgebaut war. Die Stipendien der Akademien beförderten und befördern zahlreiche junge Architekten nach Italien, wo sie - wie die Reisenden der Grand Tour - trotz guter Vorbereitung und immer mehr Publikationen über das Land und dessen Architektur doch stets überrascht sind von der Wirklichkeit der Monumente, ihrem Dasein im Alltag der Städte und Dörfer. Allein das Wissen darum, an einem besonderen Ort zu sein, sich selbst in einer Tradition von Reisenden zu befinden, die vielleicht ein ähnliches Erlebnis erfahren haben wie man selbst, enthebt die Italienreise noch immer von anderen Reisen. Wenn diese auch zu neuen Zielen führten, so war der Gewinn um so größer, wenn man dort, wo schon viele zuvor gewesen waren, Neues entdeckte. So etwa die farbigen Inkrustationen der Florentiner Protorenaissance, den Städtebau Roms des späten 19. Jahrhunderts, die vernakuläre Architektur auf dem Lande und auf den Inseln oder die italienische Bergstadt mit ihrer engen, dichten Struktur.
Grundsätzlich ist der Band mit 22 internationalen Beiträgen chronologisch geordnet und schließt mit Erfahrungsberichten von Architekturstipendiaten, die ihre Sicht auf Rom und daraus entstandener Projekte gleichsam aus erster Hand darstellen. Die Mehrzahl der Aufsätze beleuchtet konkrete Fälle von Architekten, die sich in Rom und anderen Orten Italiens für ihre eigenen Arbeiten inspirieren ließen, so die russischen Architekten Vladimir Shochkov, Ivan Fomin, Boris Iofan und Andrei Burov, die in Rom Vorbilder für ihre stalinistische Staatsarchitektur fanden. Das Rezeptionsverhalten von so verschieden bauenden Architekten wie Paul Bonatz und Dominikus Böhm zeugt von einem eher "unbekümmerten Formentransfer" (148) mediterran verstandener Bautechniken. Wieder andere Erfahrungen machten die beiden Schüler von Hans Poelzig, Carlludwig Franck und Konrad Wachsmann, die 1932/33 in Rom an der Villa Massimo waren. Für beide erschöpfte sich der Romaufenthalt nicht im Abarbeiten des Kanons, sondern sie nutzen ihre Zeit sowohl zu Weiterentwicklung moderner Architektur wie zur "Entdeckung" der bislang vernachlässigten Epochen des Manierismus und Barock. Der Blick anderer Architekten traf eher auf ausgewählte Details oder konzentrierte sich auf konkrete Bauten wie das Pantheon, das natürlich für alle Reisenden auf dem Programm stand.
Eine gewisse Konzentration hauptsächlich junger amerikanischer Architekten ist ab den frühen 1960er-Jahren zu bemerken, als Michael Graves und Robert Venturi in Rom die Ideen für ihre späteren Bauten und Schriften fanden. Charles W. Moore ragt wegen seiner intensiven Beschäftigung mit der vormodernen italienischen Architektur heraus, die ihm im "emphatischen Sinn als eine Architektur [gilt], in der menschliche 'Erfahrung' beispielhaft gelingt. Italien gewinnt damit als Residuum gelungener Erfahrung erst im Spannungsfeld von Moderne und Postmoderne seine Relevanz." (297)
Auch Tadao Andō, Steven Holl, Álvaro Siza und viele andere Architekten erfuhren in Rom gewissermaßen ein Erweckungserlebnis, das zuweilen nur darin bestand, die Stadt als Fußgänger zu erleben und daraus eine neue, gegen Sigfried Giedions Zeit-Raum-Diktum gerichtete, Konzeption von Raum, Architektur und Stadt zu entwickeln. Aber auch italienische Architekten erlebten die historische Architektur der Stadt und des Landes neu und versuchten, wie Aldo Rossi und Paolo Portoghesi, daraus eine neue Entwurfsmethode zu kreieren, "die den Spagat zwischen Vergangenheit und Zukunft sowohl technisch als auch konzeptionell schaffen kann." (209)
Der "schöpferische Dialog" (269) zwischen Architekten und der in Italien vorgefundenen Architektur wird am Beispiel von Alexander von Branca und Heinz Bienefeld dargestellt. Der eine verwertete das Castel del Monte als Modell für eine Kirche, der andere orientierte sich an spätrömischen Mauerungstechniken vor allem bei seinen Kirchenbauten. Was sich hier konkret als Einfluss von Italienreisen manifestiert, steht noch ganz in der Tradition der Grand Tour und den Rom-Stipendien der Akademien mit dem Ziel der Geschmackbildung und Referenzsammlung. Hierzu mögen auch noch die Italienexkursionen zählen, die von zahlreichen Architekturfakultäten angeboten wurden und den Studierenden Einblicke in die Architektur- und Stadtbaugeschichte erlaubten, wobei neben der Geschichte auch das Werk aktueller Architekten wie Carlo Scarpa oder Aldo Rossi in Augenschein genommen wurde.
Italienerfahrung anderer Art brachten neue Infrastrukturen wie die Eisenbahn, die es in den 1870er-Jahren etwa Jakob Burckhardt erlaubte, schnell durch Italien zu reisen und sich mit Fotografien aller ihm wichtig erscheinenden Bauten zu versorgen. Die Eisenbahnlinien gaben auch neue Haltepunkte vor, die bislang nicht auf der Agenda standen. Nicht minder verrückte die Straßenführung für den modernen Autoverkehr ab den 1920er-Jahren die kanonische Abfolge der Städte und die Wahrnehmung von Landschaft, Stadt und Architektur. Nicht nur anekdotisch interessant ist die von Hermann Sörgel begleitete Sizilienfahrt des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs von 1924 zur Targa-Florio in Palermo. Die hergebrachte Kunstrezeption wurde hier zugunsten des schnellen Vorankommens nahezu marginalisiert - der Kunst- und Architekturhistoriker Sörgel hatte kaum etwas zu tun!
Das Spektrum der "Blickwendungen" ist groß und prolongiert das "große Thema" der Italienrezeption ins 20. und 21. Jahrhundert. Viele Aspekte werden abgedeckt, anderes könnte noch ergänzt werden: So die für viele Stadtplaner der 1970er-Jahre vorbildliche Sanierung Bolognas, die Stadt Gibellina Nuova auf Sizilien, für die alle Größen der postmodernen Architektur planten und bauten, oder die Villa Malaparte, die zu besuchen heute für Architekten fast ebenso kanonisch ist wie das Pantheon. Die ewige Präsenz und Gegenwart von Bella Italia hält noch viele Themen bereit!
Klaus Jan Philipp