Pamela Nourrigeon: De la translatio à la création. Les images dans les manuscrits du Rational des divins offices, Paris: Éditions du Cerf 2018, 315 S., 1 Tbl., 39 s/w-Abb., ISBN 978-2-204-12967-1, EUR 32,00
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Das ganze Mittelalter hindurch wurden immer wieder umfangreiche Kommentare zur Liturgie verfasst, in denen die liturgische Praxis erklärt wurde und die zu einem vertieften theologischen Verständnis beitragen sollten. Zu den bedeutenden Werken dieser Art zählen neben dem "Liber officialis" Amalars (um 823) der umfangreiche "Liber de divinis officiis" des Rupert von Deutz aus dem frühen 12. Jahrhundert oder der "Mitralis de officiis" des Sicardus um 1200, aber auch "De altaris mysterio" von Innozenz III. (1161-1216) und die vor 1165 verfasste "Summa de ecclesiasticis officiis" des Johannes Beleth. Auf der Grundlage von Beleths Text entstand als bedeutendster spätmittelalterlicher Kommentar zur Liturgie das "Rationale divinorum officiorum" des 1296 gestorbenen Theologen und Bischofs Wilhelm Durandus (Duranti). Dieser erläuterte systematisch den Ort der Liturgie und dessen Ausstattung, dann den Vollzug von Sakramenten und Benediktionen, erklärte die liturgischen Gewänder, die Feier der Messe und den Vollzug des Stundengebets, behandelte aber auch das Kirchenjahr und die Berechnung des Kalenders.
Wie die 200 vollständig oder in Fragmenten erhaltenen Handschriften und über 100 Drucke von der Inkunabelzeit bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts belegen, war der Text des Durandus im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit überaus weitverbreitet und bekannt. [1] Sein Buch wurde als einziges unter den Liturgiekommentaren auch in Volkssprachen übersetzt. [2] Auffällig ist, dass die zahlreichen Handschriften des Originaltexts in der Regel nur Initialenschmuck enthalten, keine ausführlichere Bebilderung. Grund dafür war wohl, dass hier mit einem eingeschränkten Leserkreis zu rechnen war: Der lateinische Text galt als theologisch-wissenschaftliches Werk, seine Leser waren als Kleriker mit den Abläufen und wohl auch mit den möglichen Deutungen vertraut, so dass man darauf verzichten konnte, den Text durch Illustrationen zu veranschaulichen. Anders verhielt es sich mit den volkssprachlichen Übersetzungen. Sie gehörten als ebenso belehrender wie erbaulicher Text zur Lektüre spätmittelalterlicher Nonnenkonvente [3], wurden aber auch von hochgestellten Laien in Auftrag gegeben und dann in einigen Fällen aufwendig bebildert. Dies gilt für die Übersetzung des Durandus durch den Karmeliten Jean Golein (1325-1403), der im Auftrag des französischen Königs Charles V den Text ins Französische übertrug.
Pamela Nourrigeon stellt in ihrem Buch ausschließlich die Gruppe der neun zwischen 1371/72 und 1470 ausgeführten französischen Codices vor, die mit einer Ausnahme alle auf verschiedene französische Bibliotheken verstreut sind. Den Text begleiten Bilder zu verschiedenen Momenten der Liturgie, sei es der Messe, sei es der Krönung des Königs. Manchmal geben sie den Literalsinn der Liturgie wieder, manchmal sind die durch typologische beziehungsweise allegorische Motive ergänzt. Nourrigeon stellt zunächst die Handschriften vor und untersucht die Bilderfolgen dann unter verschiedenen, mit ihrer Ausführung verbundenen Intentionen. Sie beschreibt die daraus resultierenden Funktionen: als "traité visuel sur la liturgie", als Werk im Dienst des französischen Königs, als Nachweis der besonderen Bedeutung des Karmelitenordens, als Zeugnis für die Beziehungen zwischen Juden und Christen. Hier kann die Verfasserin zeigen, dass der spätmittelalterliche Übersetzer die typologische Argumentation des lateinischen Originals aus dem 13. Jahrhundert im Sinne des zeitgenössischen historischen, politischen und theologischen Antijudaismus veränderte und teilweise überformte. Im letzten Kapitel zeigt sie, in welcher Weise die bebilderten Handschriften als Werke der Frömmigkeitsliteratur rezipiert wurden, besonders im Hinblick auf die Verehrung der Apostel und Mariens.
Das gründliche Buch von Nourrigeon erschließt den Komplex der illustrierten Handschriften der Übersetzung des Durandustexts durch Golein und klärt so ein wichtiges Desiderat der Rezeptionsgeschichte des Textes. Die Verfasserin verzichtet auf eine eingehendere Herleitung einzelner, allegorisch erweiterter Bildmotive und auf einen inhaltlichen oder strukturellen Vergleich mit anderen in fürstlichem Auftrag entstandenen volkssprachlichen Übersetzungen des "Rationale divinorum officiorum". Eine solche wäre der für Herzog Albrecht III. von Österreich (1365-1395) zwischen 1385 und 1406 ausgeführte deutschsprachige Codex mit einer wesentlich umfangreicheren, dem Auftraggeber entsprechend anspruchsvollen Ausstattung mit 316 Deckfarbeninitialen (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2765).
Anmerkungen:
[1] Kritische Edition: Guillelmi Duranti: Rationale divinorum officiorum, 3 Bde., hgg. von Anselme Davril / Timothy M. Thibodeau (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 140-140B), Turnhout 1995-2000; eine moderne deutsche kommentierte Übersetzung erschien 2016; zu dieser: Stephan Waldhoff: Rezension von: Wilhelm Durandus: Rationale divinorum officiorum. Übersetzung und Verzeichnisse von Herbert Douteil, mit einer Einführung herausgegeben und bearbeitet von Rudolf Suntrup, Münster 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 6 [15.06.2017], URL:http://www.sehepunkte.de/2017/06/29623.html.
[2] Jean Golein: Le Rational des divins offices du Guillaume Durand, Livre IV. Édition critique et commentée par Charles Brucker et Pierre Demarolle, Genf 2010; zu den deutschen Übersetzungen: Georg Steer: Durandus, Wilhelm, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Zweite Auflage, Bd. 2, Berlin / New York 1980, Sp. 245-247.
[3] Vgl. u.a. Johanna Thali: Die Tischlesung als Ort der Performanz, in: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter, hgg. von Barbara Felith / René Wetzel, Berlin / New York 2009, 250.
Wolfgang Augustyn