Carole Fink: West Germany and Israel. Foreign Relations, Domestic Politics, and the Cold War, 1965-1974, Cambridge: Cambridge University Press 2019, XX + 349 S., 10 s/w-Abb., 4 Kt., ISBN 978-1-107-07545-0, GBP 22,99
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Es gibt diese wissenschaftlichen Themen, bei denen man dem verfehlten Eindruck unterliegt, es sei alles gesagt, jeder Winkel ausgeleuchtet, jedes Dokument, ja jeder Satz bewertet. Es sind dies zumeist Themen, die allein aufgrund ihrer überragenden historischen Bedeutung den Eindruck nahelegen, dass alles, was jetzt noch kommt, nur noch so etwas ist wie die neue Zubereitung alter Speisen.
Zu diesen herausragenden Themen gehören ganz zweifelsohne die deutsch-israelischen Beziehungen, auch weil sie sich bis heute in einer Weise entwickelt haben, die selbst den nüchternsten Historiker und Politikwissenschaftler zum Gebrauch jenes Wortes nötigt, das diese Berufsgruppe aus guten Gründen meidet, wie der Teufel das Weihwasser: "Wunder". In der Tat ist der Weg vom Menschheitsverbrechen der Shoah keinesfalls in eine Gegenwartssituation vorgezeichnet, in der die Deutschen neben den Amerikanern in Israel empirischen Studien zufolge den größten Grad der Beliebtheit verzeichnen dürfen. Schon gar nicht war abzusehen, dass der junge Staat Israel nur sieben Jahre nach Kriegsende einen ersten völkerrechtlichen Vertrag mit dem Land der Täter einging.
Ein "Wunder" ist immer mehr Ergebnis als Prozess. Der Begriff blendet ebenso aus, welche äußeren Faktoren, welche weltpolitischen Dimensionen diesem Prozess zugrunde gelegen haben. Einen wichtigen Hinweis vermag der Begriff "Wunder" aber zu geben: Nämlich, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel immer schwierige, hochkomplexe, multidimensionale Beziehungen waren und bis heute sind.
Carole Fink ist mit ihrem Buch in dieser schwierigen Gemengelage ein wahres Kunststück gelungen. Ihre Studie füllt eine Lücke in diesem wichtigen Forschungsfeld. Schon der zeitliche und thematische Schwerpunkt ist außerordentlich klug gewählt. Während für die Frühzeit der Beziehungen, für die Wiedergutmachung und die Entwicklungen im Vorfeld der Aufnahme diplomatischer Beziehungen bereits einiges an profunder Forschung und Aufarbeitung vorliegt, ist die Zahl richtungweisender Studien aus den ersten Jahren der formalen diplomatischen Zusammenarbeit beider Länder ab 1965 deutlich begrenzter. Aber noch wichtiger ist der thematische Ansatz, den die Autorin gewählt hat: Denn besonderen Seltenheitswert haben Studien, die bilaterale Beziehungen nicht allein diplomatiegeschichtlich betrachten, sondern zugleich einen Vergleich der jeweiligen innenpolitischen Situation anstellen.
Carole Fink verweist zunächst zu Recht auf die Tatsache, dass die Jahre um 1965 in beiden Ländern eine parallele Zäsur darstellen. In diesen Tagen sind die überragenden politischen Titanen, die Staatsgründer Adenauer und Ben Gurion, zwar längst in den Ruhestand getreten, aber immer noch prägende Gestalten, die ihren Nachfolgern Ludwig Erhard und Levi Eshkol in Sachen Deutschland - Israel mehr oder minder klar ins Steuerrad griffen. Es wechselten zur gleichen Zeit die politischen Vorzeichen in beiden Ländern: In der Bundesrepublik zeichnete sich mit der Großen Koalition das Ende der absoluten CDU/CSU-Dominanz zugunsten der Sozialdemokratie ab, und in Israel ging die Akzeptanz der linken Parteien zugunsten eines Blocks nicht-sozialistischer Parteien zurück. In beiden Ländern hinterließ die erste Weltwirtschaftskrise nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges tiefe Spuren und verursachte Arbeitslosigkeit und Verunsicherung. Neben solchen Parallelitäten verweist Carole Fink aber auch auf entscheidende Unterschiede insbesondere in der Debatte über die Außen- und Sicherheitspolitik: Während Westdeutschland fest eingebunden war in ein Schutzsystem durch die NATO-Partner und insbesondere durch die klaren Garantien der amerikanischen Schutzmacht, konnte Israel nicht auf diesen Schutz zählen und war deshalb auf Allianzen mit anderen Staaten angewiesen, die diese aber nur sehr zögerlich gewähren wollten.
Fink hält in ihrer meisterhaft und akribisch recherchierten Studie mit einer schier unüberschaubaren Menge an Primärquellen aus allen relevanten Archiven die vielen Erzählfäden in den Händen, die sich durch diese Zeit ziehen. Sie beschreibt 1967 als Marke des Stimmungswandels: Während des Sechs-Tage-Krieges waren die Solidaritätsbekundungen in Deutschland und die Berichterstattung darüber in Israel so positiv, dass erstmals die öffentliche Meinung in Israel umschlug und die Zeitungen voll von überschwänglichen Würdigungen waren. Das aber war ein trügerisches Geschenk, weil in Westdeutschland nach dem israelischen Sieg erstens zunehmend kritische Stimmen gegen Israels Außen- und Besatzungspolitik laut wurden. Zweitens mussten die Israelis erkennen, dass Westdeutschland erstmals eine neutralere Stellung gegenüber Israel einnahm und sich deutlicher als bisher auch hinter die Palästinenser stellte.
Das Jahr 1969 stellt nach Finks Einschätzung eine wichtige Zäsur in den bilateralen Beziehungen dar. Überzeugend zeigt Fink auf, wie skeptisch Golda Meir auf die neue Politik Brandts schaute, die sie für Appeasement-Politik hielt. Sie sah Israel gleichsam als Geisel der Ostpolitik Brandts, in deren Folge sich auch die deutsche Politik gegenüber den arabischen Staaten und Akteuren veränderte.
Die vielen persönlichen Begegnungen wurden überlagert von Spannungen zwischen den beiden Ländern. Für einen besonderen Tiefpunkt hielten die Israelis nach dem Terroraschlag auf die Olympischen Spiele 1972 die mangelnde Solidarität der Bundesrepublik während des Yom-Kippur-Krieges 1973, als Israel einer existenzbedrohenden Niederlage ins Auge sah. Für ihren Untersuchungszeitraum, der eher zu schwierigen Jahren des bilateralen Verhältnisses zählte, findet Carol Fink eine schöne und treffende Charakterisierung. Es seien Jahre der "brüchigen Stabilität" gewesen.
Das Buch von Carol Fink ist ein wertvoller Beitrag zur Erforschung der deutsch-israelischen Beziehungen. Ihr ist mit gelegentlich leicht überfordernder Detailtreue und mit größter Akribie auf ungewöhnlich breiter Quellenbasis unter Nutzung fast aller relevanten Archive ein umfassendes Bild dieser gelegentlich vergessenen, aber so wichtigen Jahre gelungen, das sich an Differenziertheit kaum überbieten lässt. Die besondere Stärke der Studie bleibt die Verknüpfung von Innenpolitik, Außen- und Weltpolitik, die damit nicht nur ein Portrait bilateraler Beziehungen, sondern gleichzeitig auch ein Beitrag zur Erforschung der historischen Entwicklung in der Zeit des Kalten Krieges ist. Vorbeikommen werden künftige Forscher an diesem Werk wohl kaum.
Michael Borchard