Rezension über:

Michael Vössing: Humanitäre Hilfe und Interessenpolitik. Westdeutsches Engagement für Vietnam in den 1960er und 1970er Jahren (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Bd. 251), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 619 S., ISBN 978-3-525-30193-7, EUR 85,00
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Rezension von:
Julia Kleinschmidt
Georg-August-Universität Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Julia Kleinschmidt: Rezension von: Michael Vössing: Humanitäre Hilfe und Interessenpolitik. Westdeutsches Engagement für Vietnam in den 1960er und 1970er Jahren, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 2 [15.02.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/02/32882.html


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Michael Vössing: Humanitäre Hilfe und Interessenpolitik

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Die Rolle von etablierten Wohlfahrtsverbänden und neuen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die das humanitäre Engagement der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert prägen, sind als Pendant zur Menschenrechtsgeschichte in den letzten Jahren in den Fokus historischer Untersuchung gerückt. Mit der Einordnung der bundesrepublikanischen "Vietnamhilfe" als Teil eines "institutionalisierten Politikfeldes der Außenbeziehungen" (12) widmet sich Michael Vössing in seiner Mannheimer Dissertation einem finanzstarken und politisch umkämpften, für die Geschichte Deutschlands jedoch kaum systematisch erschlossenen Gegenstand.

Die 1970er Jahre hätten angesichts einer der größten weltweiten Flüchtlingskrisen im südchinesischen Meer durchaus verschiedene Schwerpunktsetzungen einer deutsch-vietnamesischen Geschichte des Helfens zugelassen. Dennoch wählt Vössing als Untersuchungszeitraum die Kernzeit des Vietnamkriegs von 1965 bis 1973. Damals war die bundesrepublikanische Vietnampolitik von der mit einem lautstarken Anti-Amerikanismus einhergehenden Protestbewegung gegen den Krieg und zeitgleicher diplomatischer Verpflichtung gegenüber den USA geprägt. Da Vössing sich darauf konzentriert, die Not- und Soforthilfe ebenso wie sozialstrukturelle Projekte als Kompensation für militärische Einsätze und Beginn "der humanitären Auslandshilfe" (25) vollständig zu erfassen, erscheint die zeitliche Begrenzung schließlich sinnvoll. Denn er muss die Fülle der Akteurinnen und Akteure aus traditionellen Verbänden wie dem Roten Kreuz, Malteser, Caritas und die Diakonie und insbesondere auch neuen international agierenden Gruppen wie terre des hommes, SOS-Kinderdorf oder die Aktion Friedensdorf aufgrund fehlender Forschungsliteratur zunächst vorstellen.

Das Aktionsspektrum der untersuchten Organisationen ist in der Tat erstaunlich; die konfessionellen Verbände engagierten sich dezidiert überparteilich, die mit Nordvietnam solidarischen Anti-Kriegs-Gruppen spendeten große Summen für die medizinische Versorgung und ihre Mitglieder reisten gar in die Kriegsgebiete. Vor allem aber die neueren humanitären Gruppen versuchten den Schwächsten zu helfen, indem sie verwundete oder verwaiste Kinder in der Bundesrepublik versorgten und sich in das Narrativ "eines sich als 'radikal' verstehenden Humanitarismus" (564) einschrieben. Wie wenig neutral viele der Verbände letztlich agierten, zeigt Vössing aber nicht nur an der in der linken studentischen und gewerkschaftlichen Protestbewegung verankerten "Hilfsaktion Vietnam" als "den zentralen humanitären Akteur der "Vietnamkriegsopposition" (381), sondern auch an einem traditionellen und im Sinn der Genfer Konvention neutralen Player. Die deutsche Sektion des Internationalen Roten Kreuzes, die mit staatlicher Finanzierung ihr Hospitalschiff Helgoland in Südvietnam "als Ausdruck der Solidarität im Ringen der 'freien Welt'" (169) verstanden wissen wollte, arbeitete stets eng mit der Bundesregierung zusammen und schaffte es nicht, durch weitaus kleinere Maßnahmen im Norden ihre Neutralität zu wahren. Diese Beobachtung lädt einmal mehr dazu ein, aus einer historiografischen Perspektive der Mär von den neutralen Helfenden auf den Grund zu gehen.

Die Dissertation entstand im Rahmen des Forschungsverbundes zu Humanitarismus im Spannungsfeld von Fürsorge, Neutralität und Interessenpolitik, der von Johannes Paulmann vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz geleitet wird. [1] Umso mehr wundert es, dass die Praktiken vor Ort bzw. das für den neuen Humanitarismus kennzeichnende grenzüberschreitende Handeln kaum Gegenstand der Untersuchung sind. [2] Vössing konzentriert sich beinahe ausschließlich auf die Planungen und die interne Kommunikations- und Verwaltungsebene der Hilfsaktionen in der Bundesrepublik.

Beeindruckend ist die große Menge an gesichteten Quellenbeständen aus großen wie kleinen Archiven - von den verschiedenen Standorten der Bundes- und Kirchenarchive bzw. autonomen Archiven für Soziale Bewegungen bis hin zu persönlichen Nachlässen. Dies weist auf eine immense Recherchearbeit hin und ist wohl typisch für Forschungsvorhaben, die die Rolle von Nichtregierungsorganisationen (NRO) hervorzuheben sucht. Die Fülle des Materials mag dazu geführt haben, dass die über 15 Fallbeispiele eher additiv nebeneinanderstehen und nur eine radikale Kürzung der vielen Zitate aus sicher spannenden Quellen zur Lesbarkeit der fast 600 Seiten umfassenden Schrift beigetragen hätte. Begrüßenswert ist dagegen, dass auch dem Scheitern von Hilfsaktionen in der Gesamtschau ein gebührender Platz eingeräumt wird. Insgesamt gelingt es Vössing außerdem, die spezifischen Entscheidungswege und internen Hindernisse der diversen NROs herauszuarbeiten. Somit liegt der Wert dieser Arbeit besonders darin, den Humanitarismus als ein zutiefst heterogenes Feld aufzuzeigen.

Zugleich bietet die Monografie eine relevante Vorgeschichte für die vietnamesisch-deutsche Migration der "Boatpeople" aus Südvietnam. [3] Für weitere Forschungsprojekte wird in diesem Kontext zu erarbeiten sein, wie dieselben Organisationen, die Vössing als zentrale Akteurinnen und Akteure eines "westdeutschen Engagements" ausmacht, ihre Arbeit mit Kriegsende in der Region fortsetzten, indem sie schlicht ihren räumlichen Kontext verlagerten. Das DRK, der Caritasverband, die Diakonie und wieder neue humanitäre Gruppierungen wie die Cap Anamur um den Kölner Journalisten Rupert Neudeck versuchten, den Geflohenen in den umliegenden Staaten Vietnams bzw. auf dem Meer zu helfen. Und anschließend betreuten diese humanitären Akteurinnen und Akteure die Flüchtlinge in bis dato vor allem für deutsche Aussiedlerinnen und Aussiedler genutzte Erstaufnahmelager wie Friedland und Unna-Massen.

Michael Vössing korrigiert den bereits von zeitgenössischen Protagonistinnen und Protagonisten geformten Eindruck, dass die Hilfsmaßnahmen während der Hungersnot im Biafra-Krieg (1967-1970) in Nigeria der erste Fall einer "Vermischung von humanitären Engagement und (außen-)politischen Konflikten" (581) gewesen sei. Sein Ansatz ist eine multiperspektivische Politikgeschichte, in der neben politischen Parteien, der klassischen Diplomatie und Vertreterinnen und Vertretern aus der Wirtschaft auch Hilfsorganisationen zu Erfolg und Misserfolg und letztlich auch zur Stoßrichtung einer nationalen Außenpolitik beitragen. Die Dissertation mit einer teilweise zu vorsichtigen analytischen Herangehensweise überzeugt als quellenreiches Handbuch und Puzzlestück in der neuesten internationalen Verflechtungsgeschichte Deutschlands.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Johannes Paulmann (ed.): Dilemmas of humanitarian Aid in the Twentieth Century, Oxford 2016, Siehe außerdem den Blog https://hhr.hypotheses.org (28.1.2020).

[2] Vgl. Maria Framke / Joel Glasman: Editorial, in: WerkstattGeschichte 68 (2015), 3-12, hier 3.

[3] Vgl. Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019, S. 187-228; ders.: Engagement für Flüchtlinge. Die Aufnahme vietnamesischer "Boat People" in der Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen 14 (2017), 13-40, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2017/id=5447 (19.8.2019); Julia Kleinschmidt: Eine humanitäre Ausnahmeleistung. Die Aufnahme der Boatpeople als migrationspolitische Zäsur, in: Bengü Kocatürk-Schuster u.a. (Hgg.): UnSichtbar. Vietnamesisch-Deutsche Wirklichkeiten (= Migration im Fokus; Bd. 3) Köln 2017, 50-59.

Julia Kleinschmidt